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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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Frankreich Deutschland
den Krieg erklären. Ellie wird in Paris einigermaßen sicher sein. Aber euch
zwei, euch würde man selbstverständlich internieren, das ist doch ganz klar.
Ich möchte nicht, daß ihr in einem Lager verschwindet. Ihr hättet keine Chance
mehr, aus eurem Leben noch etwas zu machen. Dein Studium, Karl, könntest du
vergessen. Das einzige, was euch als Möglichkeit bliebe, wäre, sich der
französischen Armee anzudienen. Wie ich euch kenne, wollt ihr das lieber nicht.
Wenn ich mich täuschen sollte: Das Rekrutierungsbüro hat seine Pforten bereits
geöffnet, in der Rue Saint-Dominique, je früher ihr euch dort freiwillig
meldet, desto besser. Nach einem Décret-Loi der französischen Regierung sind alle Réfugiés im Kriegsfall den gleichen Verpflichtungen unterworfen wie die Franzosen. Ist
euch das nicht bewußt gewesen? Nein?
    Drum verlaßt dieses Land, sofort, hier liegt ein Scheck. Nehmt ihn
und geht. Ich habe in meinem Leben kaum je eine vernünftigere Entscheidung
getroffen.
    Das können wir nicht annehmen, flüsterte Ellie.
    Max war anderer Meinung. Doch, das können wir! Pierre hat recht.
Alles andere wäre unvernünftig, ja geradeheraus töricht. Dennoch bin ich aufs
äußerste … beeindruckt. Er reichte Pierre die Hand. Der legte ihm das Kuvert mit
dem Scheck in die offene Handfläche.
    In Le Havre läuft am Dienstag ein Schiff der Compagnie Générale
Transatlantique aus. Tickets könnt ihr noch heute nachmittag im
Reisebüro Le
Tourist , Boulevard St. Martin, erstehen, da bekommt ihr als Gäste
des Monbijou ein halbes Prozent Preisnachlaß. Beeilt euch, es werden wahrscheinlich mehr
Menschen auf die Idee kommen. Die Zeitungen schreiben, daß die Möglichkeit
einer Auswanderung nach Übersee in den kommenden Tagen stark eingeschränkt sein
wird.
    So schnell geht das alles nicht. Karl stand auf, als müßte
er sich wehren. Wir haben doch gar keine gültigen Papiere fürs Ausland!
    Doch. Habt ihr. Pierre öffnete eine Schublade und holte
zwei nagelneue Pässe der französischen Republik hervor.
    Zanoussi hat mir versichert, daß sie von Originalen praktisch nicht
unterscheidbar sind. Ich mußte ein wenig sein Vertrauen gewinnen, bevor er sie
für mich in Auftrag gab. Ja, seht mich nicht so an, ihr Schafe! Ihr hattet die
ganze Zeit über riesiges Glück und habt so getan, als sei das
selbstverständlich. Das konnte ich nicht tatenlos mitansehen. Eure Namen habt
ihr behalten, nur euer Geburtsort liegt ab sofort im Elsaß. Ein kleines Dorf,
gleich neben meinem. Jetzt, liebe Landsleute, haut ab. Viel Glück!
    Noch Stunden später waren die drei sehr bewegt, in einem Zustand
zwischen Rausch und Betäubung. Die Szene, die Pierre ihnen geliefert und dabei
sichtlich genossen hatte, würde schwerlich je von etwas anderem zu überbieten
sein.
    Sie hatten sich Tickets zweiter Klasse besorgt, weil die
dritte schon ausverkauft war. Den Scheck hatten sie eingelöst und das Geld auf
ein Express-Konto der Western Union deponiert, auf das sie weltweit Zugriff
haben würden. Tausend Francs trugen sie in bar mit sich herum. Der letzte
Samstagabend, die letzte Nacht in Paris mußte durchgefeiert werden. Morgen
würden sie den Zug nach Le Havre nehmen, wo am Dienstag nachmittag der Dampfer Champlain Richtung New York auslief, mit Zwischenhalt in Southampton und Plymouth.
    Ihre Habe hatten sie in vier große Koffer gepackt und am
Gare du Nord in Schließfächern zwischengelagert.
    Übermorgen, am 28. August, würde die Zählung der staatenlosen und
Asylrecht genießenden Ausländer beginnen. Für den Montag waren alle diejenigen,
deren Familienname mit A begann, aufgerufen, sich auf der für ihren Wohnsitz zuständigen
Polizeistelle zur Registrierung zu melden. Die Loewes würden laut Plan am 19.
und 20. September an der Reihe sein.
    Karl, der mit den anderen mitlief, war ein wenig
unglücklich, wenn er an die weiche Haut von Claudette dachte. Schwarze Mädchen,
meinte Ellie, solle es auch in den USA geben, habe
sie gehört. Er könne doch nicht so blöd sein, einer Nutte hinterherzutrauern.
    Kaum daß sie es gesagt hatte, wurde sie rot und lachte los.
    Die Brüder hatten immer noch nicht wieder direkt miteinander gesprochen.
Max beendete diesen Zustand, indem er Karl einen Burgfrieden vorschlug. Ihre
Lage ähnele nun einmal der, in der sich zwei Fremde befänden, wenn sie sich für
die Nacht ein Hotelzimmer teilen müßten. Drüben in der neuen Welt dann habe man
Platz genug, sich aus dem Weg zu
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