Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
Vom Netzwerk:
verteilten Osteuropa
gezeichnet. Der breiten Bevölkerung galt der Pakt als Garant des Friedens. Dem
einfachen NS-Parteimitglied, dem jahrelang der Kampf gegen den Bolschewismus
antrainiert worden war, wurde der brüske Frontenwechsel als pragmatische
Maßnahme verkauft. Die deutschen Zeitungen beschworen plötzlich die historische
Tradition der deutsch-russischen Freundschaft. Ein Hauch von Surrealität
schwebte über jenen letzten Hochsommertagen. Russische Radiostationen, die
allabendlich Anti-Nazi-Propaganda gebracht hatten, sendeten nun Musik.
    Der Hitler-Stalin-Pakt, dessen Unterzeichnung der Welt am
24. August 1939 verkündet wurde, traf viele linke Intellektuelle wie ein Schlag
ins Gesicht. Offenkundig sollte das apathische Polen zwischen den Großmächten
aufgeteilt werden. Karl dachte, nach dem ersten Schock, daß sich Stalin schon
irgend etwas dabei denken würde, er konnte sich nur nicht erklären, was genau.
    Max, der sich mit Ellie auf seinem Zimmer befand, als er
die Zeitungsnachricht las, erinnerte sich dunkel an Zanoussi, der etwas in der
Art vorausgesagt hatte. Es wirkte auf ihn ebenso gespenstisch und
furchteinflößend wie der Auftritt Julie Geisings nachts in der Villa in Menton.
Ellie wollte wissen, welche unmittelbaren Konsequenzen sich daraus ergäben, ob
es zu einem Krieg kommen würde oder nicht.
    Max zündete sich gierig eine Zigarette an, obwohl er aus Rücksicht
auf seine Haut tagsüber nicht mehr hatte rauchen wollen. Ein Krieg komme, ja.
Es hänge nun von England und Frankreich ab, ob ein großer Krieg draus werden
würde. Es gehe um einen schlichten Raubzug. Zwei despotische Wegelagerer hätten
ein Interessengebiet untereinander aufgeteilt.
    Goebbels
schrieb in sein Tagebuch:
    Die
Ankündigung des Nichtangriffspaktes mit Moskau ist die große Weltsensation. Das
ganze europäische Kräftebild ist damit verschoben. London und Paris sind
fassungslos. Warschau spielt den Halbstarken, aber das wirkt nur noch
lächerlich. Der Führer hat einen genialen Schachzug getan. Es muß sich nun
zeigen, wie die Welt darauf reagiert. Wir leben in einer Zeit ewig sich
wiederholender Wenden. Man glaubt, viel erlebt zu haben und immer nur noch
mehr. Gesegnet sei diese große Zeit.
    Nur
in Polen gab man sich unbeeindruckt. Die Meldung vom rotbraunen Pakt wurde von
allen Zeitungen demonstrativ auf die zweite Seite verbannt, um keine zu großen
Beunruhigungen auszulösen. Wer in Polen eins und eins zusammenzählen konnte und
über die nötigen Geldmittel verfügte, hätte zu diesem Zeitpunkt noch eine
knappe Woche Zeit gehabt, sich außer Landes und in Sicherheit zu bringen. Leiden entsteht aus
Dummheit , wie Max zu betonen nie müde wurde.
    Abends ging er mit Ellie ins Kino. Es lief La Grande Illusion von
Renoir mit Jean Gabin und Erich von Strohheim, ein pazifistischer Film, der die
Völkerverständigung beschwor und angesichts der aktuellen Ereignisse etwas
hilflos und gutgemeint wirkte.
    Auf der Gerüchteseite der bunten Blätter las man, daß Chaplin einen
neuen Film namens Die
Diktatoren plante, eine ernste Komödie über Stalin und Hitler.
Aufgrund der aktuellen Ereignisse schreibe er ständig das Drehbuch um und finde
keinen Abschluß.

AUFLEUCHTEN UND VERSCHWINDEN
    Pierre
Geising bat Max, Karl und Ellie am 26. August zu einer Aussprache in
sein Büro.
    Für alle drei stellte er ein Angebot in Aussicht, das man in der
Summe nur als sehr großzügig beurteilen konnte. Er stimme einer Trennung von Ellie
zu, wolle von einer Scheidung aber vorerst nichts wissen. Alle drei gemeinsam,
so seine Bedingung, sollten in Amerika ihr Glück versuchen, er wolle ihnen dazu
eine Starthilfe in Höhe von zweihunderttausend Francs geben, der Hälfte seines
aktuellen Vermögens. Er brauche das Geld nicht, auf seinem Konto läge es nur
herum und setze Zinsen an. Es gebe schlicht keinen besseren Verwendungszweck
dafür.
    Ellie habe drei Jahre Zeit, zu ihm zurückzukehren, danach würde er
seinerseits das Scheidungsverfahren einleiten und sogar, falls nötig, die
Schuld auf sich nehmen. Es sei wichtig, daß die drei sofort eine Schiffspassage
buchten und auf schnellstem Wege das Land verließen.
    Warum? Karl stellte die Frage hauptsächlich, um die
entstandene Stille zu unterbrechen, die alle drei Beschenkten als etwas
unheimlich, beinahe peinlich empfanden. Mit manchem hatten sie gerechnet. Damit
sicher nicht.
    Ganz einfach, sagte Pierre. Wie es aussieht, wird Hitler
in Polen einmarschieren. Daraufhin werden England und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher