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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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erinnern, sie jemals schlecht behandelt zu
haben.
    Als Max ihm über den Weg lief, nach dem Frühstück, bat Pierre ihn
auf ein Wort unter vier Augen ins Büro. Obwohl er annahm, daß Max über alles
genau Bescheid wußte, tat er, als könnte dem vielleicht nicht so sein. Pierre
erzählte, mit immer noch verquollenen Augen, von der schlimmen Nacht, die er
hinter sich habe. Und bat Max um freundschaftlichen, um gnadenlos ehrlichen
Rat. Wenn irgendwer Einsicht in Ellies Denken habe, dann er.
    Ist es völlig aussichtslos? Was steckt dahinter? Was verschweigt sie
mir?
    Max schützte Mitgefühl vor und ließ in keinem Moment durchblicken,
daß er Ellie immer nur als exquisite Leihgabe im Dienst einer höheren Sache
betrachtet hatte. Pierre erfuhr immerhin erstmals von den Auswanderungsplänen
der beiden nach den USA . Verblüfft und überrumpelt
hörte er Max zu, dessen Erklärungen er für den Moment als wohltuend empfand.
    Wir wollen dort ein neues Leben beginnen, bevor Europa zur
Mausefalle wird. Kann sein, daß Ellie unter einem neuen Leben eben etwas ganz Neues versteht. Kann sein, aber das ist Spekulation, daß sie dich für zu festgefahren
hält, für zu tief in der alten Welt verwurzelt, um mit ihr einen so
gravierenden Einschnitt zu wagen.
    Warum denn nicht? Sie hätte mich ja wohl einfach mal fragen können!
Und du bist ganz sicher, daß sie keinen anderen kennengelernt hat?
    Da bin ich weißgott sicher. Ellie ist eine treue Seele.
    Pierre lauschte diesem Satz so hingebungsvoll, als wollte er in Max’
Worten ein Schaumbad nehmen. Kein anderer Mann . Als wäre das die Hauptsache,
entspannte er sichtlich, verschmolz mit dem Sessel zu einer Einheit aus
Verständnis und Leidensbereitschaft.
    Daß Ellie dich für den Moment nicht mehr liebt, naja, es ist wohl
so. Nimm es als gegeben hin und gräm dich nicht. Ich kenne sie lange und weiß
um ihren Wankelmut. So war sie immer schon. Schnell hat sie das Interesse an
etwas verloren, für das sie vorher durchs Feuer gegangen wäre. Das ist – leider – ihre Wesensart. Ich hätte es dir gerne damals vor der Hochzeit gesagt und
dich gewarnt, aber man will ja auch kein Spielverderber sein, man spekuliert
darauf, sich für dieses eine Mal zu täuschen.
    Jaja. Verstehe. Und jetzt, meinst du, ist es zu spät für eine
Versöhnung? Pierre hoffte auf einen Anker, oder eine Boje irgendwo im weiten
Meer, unter der er nach diesem Anker tauchen konnte.
    Wenigstens für den Moment.
    Wie meinst du das?
    Ich will dir keine falsche Hoffnung machen. Aber wenn es eine
Möglichkeit gibt, sie eines Tages wiederzugewinnen, mußt du jetzt sehr besonnen
reagieren. Ellie, das hast du sicher gemerkt, läßt sich nur an einer sehr, sehr
langen Leine halten.
    Und wie ich das gemerkt habe!
    Drum leg dich nicht mit ihr an. Und setz dich nicht auf sie drauf.
Klammere nicht. Tu so, als gäbe es Schlimmeres. Laß sie einfach gehen. Beschäme
sie durch deine Großmut! Verletze und verwirre ihre Gefühle durch
Gleichgültigkeit.
    Das ist sehr viel verlangt.
    Eines Tages, vielleicht, wird sie sich an die Wohltaten erinnnern,
die du ihr geboten hast. Vorerst mußt du sie verloren geben. Auf ihr zu
beharren, rechthaberisch, nur weil ein Stück Papier dich zu ihrem Ehemann
erklärt, wäre grundverkehrt.
    Ich muß, sagst du, einen langen Atem haben?
    Vielleicht muß er gar nicht so lang sein. Wir reden von einer fast
vierzigjährigen Frau. Die bald an die Grenzen ihrer erotischen
Überzeugungskraft stoßen wird. Das soll jetzt nicht boshaft klingen.
    Tut es nicht. Ich verstehe, worauf du abzielst.
    Glaub mir, du bist mir ein sehr sympathischer Schwager, und ich
hätte meine Schwester nicht jedem gegönnt. Bei dir, dachte ich immer, sei sie
in guten Händen.
    Ich hätte mich für sie umbringen lassen!
    Das sagt sich immer leicht, hinterher. Ellie ist eine Prinzessin, auf
ihre Art. Kapriziös. Du mußt wissen, daß sie sich aus dem rein körperlichen
Aspekt der Liebe nie viel gemacht hat. Und – wenn es dich tröstet: Niemanden
hat sie je so lange geliebt wie dich.
    Ist das wahr? Der Anflug eines Lächelns verirrte sich auf Pierres
Gesicht.
    Max stemmte sich aus seinem Stuhl und reichte dem Schwager die Hand.
Wiewohl er bei anderen ein sehr feines Gespür dafür besaß, wann Eloquenz in
Übertreibung umschlug, konnte er nicht an sich halten.
    Weißt du, Pierre, wen ich gesehen habe, in Menton, als ich an meinem
Roman schrieb, nachts bei Kerzenlicht? Du errätst es nicht. Es war Julie, deine Julie, sie stand
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