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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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ZWEI BRÜDER
    Am
1. August 1914, dem Tag der Mobilmachung des deutschen Reiches, als der Kaiser
keine Parteien mehr kannte und der Jubel in den Straßen keine Grenzen, wurden,
motiviert vor allem durch patriotisch-erhabene Gefühlswallungen – auch
weniger hochgestochene Beweggründe spielten eine gewisse Rolle – in Potsdam
zwei Brüder gezeugt, die am 26. Februar des darauffolgenden Jahres im Abstand
weniger Minuten den Leib der erschöpften Mutter verließen.
    Der zum Doppelvater beförderte Erzeuger, der fünfzig Jahre alte
Amtsgerichtsrat Theodor Loewe, gab seiner Frau Hedwig, sobald es der Arzt ihm
erlaubte, einen salzigen Kuß auf die Stirn, denn Tränen der Rührung, die ihn
übermannten, waren von den Aug- zu den Mundwinkeln geflossen, und er fühlte
sich keineswegs verpflichtet, diese Zeichen entschiedener Anteilnahme schamhaft
wegzuwischen.
    Am 3. März 1915 wurden die beiden Nachwuchsdeutschen in der St. Peter und Pauls-Kirche auf die Namen Max und Karl getauft, von einem
katholischen Priester, der nach dem Herunterbeten der üblichen Formeln seiner
Hoffnung Ausdruck verlieh, hier wüchse das Wertvollste heran, was das Reich in
dieser schicksalhaften Lage benötige. Männliche Zwillinge von hörbar robuster
Natur (er lächelte breit) seien ein Zeichen, ein gutes Zeichen, ein den Sieg
verheißendes Gottesgeschenk. Theodor Loewe, kein sehr gläubiger Mensch,
wunderte sich über das bellizistisch-rekrutierende Gerede des Pfaffen. So viel
Welthaltigkeit schien nach seinem Geschmack zu einem vor allem spirituellen Akt
nicht zu passen. Wenn er seinen Söhnen den Ritus der Taufe auch
sicherheitshalber nicht hatte vorenthalten wollen, schaden konnte es ja nichts,
befremdete, ja verstörte ihn die Idee, hier werde von einem Vertreter der
Geistlichkeit über künftiges Kriegspersonal spekuliert. Gleich nach der
Zeremonie, als die aus Sachsen und Brandenburg angereisten Verwandten sich mit
den Säuglingen vor dem Kirchenportal fotografieren ließen, umarmte Theodor
seine Hedwig liebevoll und raunte ihr ins Ohr, daß weder Max noch Karl jemals
erfahren dürften, wer von beiden zuerst das Licht des Kreißsaals erblickt habe.
Sie sollten nicht mit einer Erbfolgenummer gebrandmarkt sein, sondern absolut
gleichberechtigt aufwachsen. Hedwig raunte zurück, daß das exakt ihrer Ansicht
entspreche, schon weil sie selbst situationsbedingt nicht aufmerksam genug
gewesen sei, um mit letzter Sicherheit sagen zu können, ob sie nun zuerst Max
oder Karl herausgepreßt habe. Die beiden blutverschmierten Kreatürchen hätten
sich von Anfang an zum Verwechseln geähnelt.
    Hedwig Loewe fand es selten sinnvoll zu lügen, aber in diesem Fall
machte sie eine Ausnahme. Es war definitiv Max gewesen, der als erster den Mut
besessen hatte, sich kopfüber in den Geburtskanal zu stürzen. Und die
Schwestern, die dem Arzt assistierten, hatten Max sogleich ein
dementsprechendes Leistungsabzeichen an die Zehe geheftet. Kein Zweifel
möglich. Hedwig, eine engelhaft niedliche, zart gebaute und meist gutgelaunte
Frau von dreißig Jahren, sympathisierte mit den aufregend neuen, beängstigend
demokratischen Ansichten ihres deutlich älteren Gatten, den sie aus
Vernunftgründen geehelicht, dann jedoch schnell liebgewonnen hatte. Er war auf
seine Weise ein ehrlicher und anständiger Mann. Wobei das nicht alle so
beurteilt hätten.
    Die Loewes lebten während des für Deutschland immer unglücklicher
verlaufenden Völkerringens relativ komfortabel in einer Sieben-Zimmer-Wohnung
in der Nähe des Nauener Tors und konnten sich selbst während der härtesten
Entbehrungszeit zwei Bedienstete leisten, ein Zimmer- und ein Kindermädchen.
Von beiden machte Theodor Loewe körperlichen Gebrauch. Hedwig nahm ihm das aber
nur anfangs und pro forma übel, sie war ja eingeweiht. Theodor hatte ihr
freimütig von seinem Leiden berichtet, mittlere bis schwere, sagte er, und
seine Stimme zitterte, Satyriasis, er könne nicht anders, nein, mit Liebe habe
das nichts zu tun, es handle sich eher um die Verrichtung kloakischer
Bedürfnisse, um eine Art sexuellen Brechdurchfalls.
    Hedwig war dafür, die Menschen zu nehmen, wie sie sind.
Wenn einer über vierzig ist, schrieb sie ihrer Mutter einmal, änderst du ihn
nicht mehr.
    Insgeheim war Hedwig sogar froh, um nicht zu sagen: heilfroh, selbst
nur noch an hohen Feiertagen sogenannte eheliche Pflichten auf sich nehmen zu
müssen. Dergleichen hatte ihr selten Genuß, oft aber Schmerzen bereitet.
Insgesamt gesehen war –
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