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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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überlegen, denn
immerhin würde sie mit Albertina nicht nur eine Konkurrentin verlieren, sondern
vor allem eine Freundin, ja eine nicht so schnell zu ersetzende Vertraute.
Theodor Loewe wunderte sich über seine Hedwig nicht schlecht. Ihr Edelmut erschien
ihm beinahe grotesk und nicht von dieser Welt. Aber wie so viele unfreie Väter
entschied er letztendlich zu Gunsten seiner Kinder, die in geordneten,
geklärten Verhältnissen aufwachsen sollten.
    Albertina fiel aus allen Wolken, als ihr das Abfindungsangebot
unterbreitet wurde. Sie sollte künftig in Berlin leben, als Eigentümerin einer
Zwei-Zimmer-Wohnung im Elendsstadtteil Moabit, und während der kommenden fünf
Jahre monatlich fünfzig Mark erhalten. Ein Vorschlag, der vom neutralen
Standpunkt aus recht großzügig genannt werden muß. Eigentlich hätte Albertina
nichts zu erwarten gehabt, schlicht nichts, Punkt. Ihr Dienstherr, wäre er ein
schlechter Mensch gewesen, hätte ihr kündigen, sie ohne einen Becher Wasser in
die Wüste schicken können, sozusagen. Dann – und nur dann hätte Albertina Grund
gehabt, sich zu beklagen, zu zetern und zu schreien. So aber blieb ihr, und
darin bestand die subtile Brutalität der Offerte, nichts anderes übrig, als
wortlos anzunehmen, was ihr geboten wurde. Natürlich beklagte sie sich dennoch,
zeterte und schrie, aber die Flüche und Drohungen, selbst ihre flehentlichen
Bitten, vermochten Theodor Loewes reines Gewissen nicht zu verletzen. Albertina
fand alsbald eine neue Stelle als Garderobiere, und für die Zukunft war sie als
Wohnungseigentümerin gewappnet. Nur besaß sie eben, außer dem unerbittlich
herannahenden Alter, keine nennenswerte Zukunft mehr, schon gar nicht jene, die
sie sich zwischendurch einmal eingebildet und angemaßt hatte, als Zweitfrau
eines bedeutenden Staatsbeamten, dessen Kind sie einst beinahe, hätte er nicht
immer so akkurat aufgepaßt, ausgetragen hätte. Sie wurde nie mehr wirklich
glücklich, verfiel dem Alkohol, lebte aber noch dreißig Jahre lang unscheinbar
dahin, bis sie im Januar 1950 erst einen Herzinfarkt, danach ein Armengrab
bekam.
    Im Herbst 1920, mit fünfeinhalb Jahren, wurden die Söhne
der Loewes eingeschult. Sie überraschten ihre erste Lehrerin, das schmallippige
Fräulein Koch, durch flüssiges Lesen und die sichere Beherrschung des kleinen
Einmaleins. Letzteres hatte ihnen ihr Vater beigebracht. Um ihm eine Freude zu
bereiten, waren die Buben oft eine halbe Stunde früher aufgestanden und hatten
sich gegenseitig Zahlen an den Kopf geworfen, die multipliziert werden mußten.
Wer den ersten Fehler beging, verlor an den anderen das Recht, vom Vater im
Huckepack zur Haustür befördert zu werden, und sie haßten es, wenn der Vater
als Spielverderber auftrat und auch noch den Verlierer auf seine Schultern
nahm.
    Max und Karl, wiewohl sie unzertrennlich waren und immer füreinander
da, gestalteten ihren gemeinsamen Werdegang von Beginn an als brüderlichen,
aber sehr ernst genommenen Wettkampf. Den Rat des Vaters, sich stets einen
Vorsprung gegenüber den Mitschülern zu erarbeiten, um es später einmal leichter
zu haben im Leben, hatten sie gewissenhaft verinnerlicht. Man hätte dabei nicht
behaupten können, sie seien dazu von einem ehrgeizigen Erziehungsberechtigten
angestiftet worden, nein. Der Wunsch, über den anderen hinauszuwachsen,
beherrschte beide gleichermaßen. Wäre einer der beiden deutlich und dauerhaft
ins Hintertreffen geraten, hätte der andere seinen Ehrgeiz vielleicht gezügelt,
aus Mitgefühl, aus Scham, wer weiß. So aber gab es keinen Grund dafür, sie
erwiesen sich in den meisten Fällen als ebenbürtig. Theodor Loewe konnte seine
Söhne eine Zierde des jungen Deutschland nennen, ohne je Widerspruch hinnehmen
zu müssen. Aufgrund ihrer häuslich erworbenen Kenntnisse durften sie denn auch
beide die zweite wie auch die vierte Klasse der Grundschule überspringen, wurden
vom dankbaren Vater an Weihnachten mit der Karl-May-Gesamtausgabe und je einem
Fahrrad belohnt. Hedwig Loewe, die als einzige zur Mäßigung riet – erfolglos –,
erkrankte im Jahr 1923 an Krebs. Weil sie die Amputation ihrer linken Brust
immer wieder hinausschob, starb sie schnell und schmerzhaft. Bei der Beerdigung
weinten Max und Karl, trauerten um die tote Mutter und stellten zugleich die
Frage, ob Albertina nun nicht zurückkehren könne. Theodor Loewe gab, am Boden
zerstört, seinen Söhnen keine Antwort. Er war in einem Alter, in dem man die
eigene Zeit der Unreife so gut
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