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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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vergessen hat, daß kindliche Pragmatik einem
unheimlich und taktlos vorkommen muß. Max und Karl hingegen konnten nicht
verstehen, warum ihr Vater künftig lieber ohne eine Frau an seiner Seite leben
wollte. Sie vermißten die fürsorgliche Zärtlichkeit, die sie sowohl von der
Mutter als auch von Albertina erfahren hatten. Äußerlich wirkten sie kaum noch
wie Zwillinge. Das kam, weil Karl einen viel größeren Appetit entwickelte als
der oft kränkelnde Max. Auch in ihren Frisuren unterschieden sie sich
auffallend. Max’ Haar war glatt und spröde und schien viel weniger schnell zu
wachsen als die wuchernde, immer leicht fettig schimmernde Lockenpracht seines
Bruders. Eine genetische Merkwürdigkeit, und nicht die einzige.
    Beider Lieblingsfach war zum Befremden des Vaters weder Deutsch noch
Mathematik, sondern – ausgerechnet – Religion. Sie ahnten früh, daß es hier um
etwas nicht klar Faßbares ging, fanden sich mit vielen Behauptungen
konfrontiert, mit denen sich wunderbar spielen und spekulieren ließ. Warum
Jesus immer mit langen Haaren dargestellt werde, fragten sie ihren Lehrer,
Herrn Vogel, wo doch der Apostel Paulus solche Frisuren ausdrücklich kritisiert
hätte. Und warum nicht alle Männer in christlichen Ländern Jesus nacheifern
würden, statt alle drei Wochen zum Friseur zu gehen? Sie fragten auch, woher
man denn wissen könne, daß Jesus Gottes einziger Sohn gewesen sei. Aus der
Lektüre der griechischen Götter- und Heldensagen wußten sie, daß der inzwischen
abgesetzte Zeus in etlichen Verkleidungen vielfach für Nachwuchs unter
menschlichen Frauen gesorgt habe. Der christliche Gott dagegen habe sich nur
einmal hinreißen lassen, eine Ehe zu brechen? Vielleicht seien die anderen Male
ja unentdeckt geblieben? Für solche Fragen und Äußerungen bekamen sie mächtig
Ärger, und Theodor Loewe wurde dringend gebeten, die Elternsprechstunde zu
besuchen. Dort beklagte man sich pflichtgemäß über die vorwitzigen Brüder, aber
bei allem Unmut klang auch der Respekt durch, den achtjährige, zur Blasphemie
neigende Kinder sich weißgott verdient haben. Theodor Loewe mußte lachen, als
man ihm vortrug, auf welche Weise seine Söhne zu verdächtigen Subjekten
geworden waren, und schlußendlich lachte der Schuldirektor mit, was auf Kosten
des Lehrers Vogel ging, der in seiner senilen Renitenz einfach nicht zu
begreifen gewillt war, um welche Ausnahmetalente hier Debatten entstanden. Max
und Karl sollten, fand der Schuldirektor, nachdem er mit Loewe Senior im
Kaiserkeller ein paar Gläser Riesling getrunken hatte, unbedingt auf eine
bessere Schule gehen, die ihren Anlagen, welche man bemerkenswert, wenn nicht
gar aufsehenerregend nennen müsse, eher entspräche. Er schlug das neugegründete
Jesuitenkolleg vor, als härteste denkbare Zuchtanstalt, die die beiden
Himmelsstürmer entweder bändigen oder zu neuen Ruhmestaten anstacheln könne.
Loewe, schon etwas betrunken, willigte ein, und der Religionslehrer Vogel, ein
banaler Mensch von bequemlicher Denkart, war einfach nur froh, die Kinder
loszuwerden. Allen schien damit gedient.
    Im Potsdamer Jesuitenkolleg herrschte eine strenge Zucht.
Die Prügelstrafe war beliebt und gefürchtet zugleich. Nachts, im Schlafsaal,
tobten sich etliche Schüler aus, holten nach, was der Tag ihnen vorenthielt. Es
bildeten sich Banden, die um die Vorherrschaft kämpften und alle, die nicht
dazugehörten, als potentielle Sklaven betrachteten. Max und Karl wurden früh
mit Tatsachen konfrontiert, deren Verständnis eher der Spätpubertät vorbehalten
sein sollte. Sowohl von seiten einiger präpotenter Mitschüler wie auch
einzelner Lehrkräfte wurden, auf subtile oder drastische Art, Begierden an sie
herangetragen, mit denen ihre jungen Seelen nicht umzugehen wußten. Miteinander
darüber zu reden, vermieden die ansonsten so vertrauten Brüder, geschweige
denn, daß sie sich einem Außenstehenden, und sei es dem Vater, offenbart
hätten. Sie verstanden allerdings ganz gut, daß sie sich mit einer gewissen
Willfährigkeit Vorteile verschaffen konnten, während sich sperrig zu geben, unmittelbare
Nachteile mit sich brachte, in Form von unverdient schlechten Noten und noch
sadistischerer Repressalien.
    Lehr- seien keine Herrenjahre, meinte der Vater stets, wenn sie über
das ihnen zugemutete Pensum klagten. Ihm genügte zu wissen, daß die Söhne –
nach anfänglichen Schwierigkeiten – Fuß gefaßt hatten im System und ihren
Notendurchschnitt auf das von ihnen gewohnte
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