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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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um vorerst Ruhe zu finden. Jonathans Faible für den Jungen war demnach minniglich (wie sie es nannte) und platonisch gewesen, und die in den Briefen nicht etwa
nur angedeuteten sodomitischen Sauereien hatten nie aus der Fantasie ins Reale
gefunden, Gott sei Dank.
    Die Wahrheit behielt Max für sich. Jonathan Fink hatte dem
Jungen gegenüber sehr wohl seine obsessiven Gefühle offenbart und sich auch an
ihm vergangen, sogar mit anfänglichem Erfolg, sofern man unter Erfolg verstehen
konnte, daß die Begierde mehr auf Neugier als auf Gegenwehr stieß. Bis Max, dem
das alles irgendwann über den Kopf wuchs, der täglich befürchten mußte, daß die
Mitschüler dahinterkämen, endlich und deutlich Nein sagte. Was nicht genügte.
Erst als Max genügend schriftliche Beweise für die Aberrationen seines Lehrers
gesammelt und ihm gedroht hatte, diese publik zu machen, kam die Affäre zu
einem Ende. Jonathan Fink, der unter fürchterlichen Seelenqualen litt und sich
das frigide (so behauptete er) Fräulein Anna stets nur als Alibi vor sich
selbst warmgehalten hatte, zog Konsequenzen, mit denen nicht zu rechnen gewesen
war.
    Max weinte nicht. In ihm war alles wie betäubt, die Todesnachricht
nahm er äußerlich beinahe gleichgültig auf, wie jemand, der noch Angst haben
muß, sich durch eine übertriebene Reaktion zu verraten. Sobald er wieder zu
einem klaren Gedanken fähig war, zeigte er sich erstaunt, wie wenig genügt
hatte, um einen erwachsenen Menschen derart und für immer aus der Bahn zu
werfen. Statt eines Schuldgefühls erfüllte ihn der Suizid sogar mit einem
gewissen Stolz, für den er sich, wie ihm durchaus bewußt war, hätte schämen
sollen.
    Gerne wollte er mit seinem Bruder darüber diskutieren, traute sich
aber nicht. Zu vieles war bislang verschwiegen worden. Max hätte einiges
berichten, beichten können, die sattsam bekannnte Geschichte eines närrisch
begehrten, ausgenutzten Zöglings.
    Daß er Fink gemocht, bisweilen gar verehrt und etliche seiner
angeblich so verderblichen Handlungen weidlich genossen hatte, war eine ganz
andere Geschichte. Die dunkle Hälfte der Wahrheit, die er niemandem erzählen
konnte.
    Jonathan Finks gesammelte Briefe hätte Max verbrennen
können, tat es aber nicht. Im Gegenteil – als nach dem Fund der Leiche das
Zimmer des Lehrers tagelang unverschlossen war, betrat er es und legte das
Briefkonvolut in einer der Schubladen ab. Vielleicht, um sich wichtig zu
machen, vielleicht aus edleren Motiven – Max hätte das nicht begründen können.
Damals nicht, auch später nicht. Karl, an dessen Ohren einige Gerüchte
gedrungen waren, kommentierte den Tod des Lehrers mit einer Brutalität, zu der
nur grüne Jungs fähig sind. Eine Schwuchtel weniger, sagte er, Schwamm drüber.
Max gab keine Antwort. Aber aus seinen Augen blitzte Empörung.
    Mit Beginn der Pubertät nahm der bis dahin
sportlich-friedliche Zweikampf der Loewe-Brüder gallige Züge an. Sie eroberten
sich die Welt der großen Gedanken durch fanatische Lektüre grade jener Bücher,
die ihnen keine Lehrkraft als altersgerecht empfohlen hätte. Karls damals
bester und einziger Intim-Freund Johann Münchinger, ein denkfauler Revoluzzer,
dem es vor allem darum ging, die Obrigkeit zu provozieren, machte ihn auf die
Schriften von Liebknecht und Marx aufmerksam. Karl, der sich erst an
Schopenhauer (zu negativ), dann an Hegel versucht hatte, aber ohne Genuß, weil
noch ohne tieferes Verständnis, sog die ihm viel plausibler erscheinenden Texte
von Marx, später auch Lenin, gierig auf, er wußte von nun an bescheid über die
kommenden Erfordernisse. Alles, restlos alles, war ihm klar geworden. Er
verstand die Welt und ihre Defizite. Wußte, wie ihr zu helfen sein würde. Max
war längst nicht soweit. Karls Erleuchtungsgehabe rief seinen Spott hervor.
Auch Neid spielte eine gewisse Rolle. Die ehemals einander so verbundenen
Brüder wurden, wenn auch noch im Mantel einer spielerischen Form, von Rivalen
zu Gegnern. Denken war so eine feine Sache. Am Ende eines jeden Tages dachte
man besser, tiefer, anders – und was bis dato als gesichert galt, das galt
nichts mehr, war nurmehr Müll, der überwunden und entsorgt sein wollte. Die
Selbstherrlichkeit allen anfänglichen Denkens gestaltete die Pubertät der
Loewe-Brüder zu einem frivolen Spiel vermeintlicher Allmacht, geliehener
Überlegenheit. Ein Rausch, dem nichts gleichkam.
    Als Max sich vom radikalen Freiheitsbegriff des damals
längst toten, aber in Mode kommenden Philosophen
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