Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
Vom Netzwerk:
Niveau trieben. Überaus gern bekam
er zu hören, daß es im Kolleg eine Mehrzahl latenter Atheisten gab, die die
Theologie als eher theoretisches Spiel betrieben. Den leisen Hinweis, daß es
sich bei einigen jener Gottlosen um überzeugte Hedonisten altgriechischer Natur
handeln müsse, überhörte Loewe. Was verstünden Neunjährige denn schon von Hedonismus ?
Ein irgendwo aufgeschnappter Begriff, der zu Preußen nicht paßte.
    Karl aß sehr viel, als ahnte er, daß ein dickes Kind weniger
attraktiv wirken würde.
    Und wirklich wurde er fortan in Ruhe gelassen.
    An seinem zwölften Geburtstag trat er dem Potsdamer
Schachclub Steinitz bei, wofür er eine Sondererlaubnis der Schule erbitten und eine
Einverständniserklärung seines Vaters vorlegen mußte. Üblicherweise war es für
Unter-Sechzehnjährige undenkbar, das meist verrauchte Ambiente eines
Schachlokals zu betreten. In letzter Zeit hatte man auf höchster, heißt:
ministerieller Ebene umgedacht, um die Vormachtstellung Deutschlands im
Weltschach nicht weiter zu gefährden. Gerade bei Zöglingen zwischen acht und
zwölf Jahren könne bei intensiver Betreuung der größte Leistungsschub erreicht
werden. Dank der deutschen Weltmeister Steinitz und Lasker und der
Vizeweltmeister Janowski und Tarrasch genoß das Schachspiel in jener Epoche
hohes Ansehen im Reich, und es war eben erst zum Eklat gekommen – Emanuel
Lasker hatte 1924 die Weltmeisterschaft gegen den Kubaner Capablanca verloren.
Maßnahmen waren erforderlich.
    Nach einigem Hin und Her wurde Karl gestattet, an Freitagen von 15
bis 18 Uhr das Schulgelände zu verlassen, um im Hinterzimmer des Café Hohenlohe
Schachunterricht zu erhalten. Prompt wurde er bei seiner ersten Teilnahme
Jugendvereinsmeister, setzte sich gegen ein halbes Dutzend älterer Jugendlicher
mühelos durch. Karl besaß für alle Arten von Brettspielen außerordentliches
Talent. Mit ein wenig mehr Fleiß hätte er es zu einer Schach-Karriere bringen
können, allein, soviel Freude er auch daraus zog, komplizierte Eröffnungen zu
studieren und vertrackte Probleme zu lösen, so sehr kam ihm das Spiel auch als
ein – wenn auch erhabener – Weg vor, das wirkliche Leben zu versäumen, zu
vertändeln. Ältere Männer, die das reale Leben gegen eines zwischen Läufern,
Türmen und Springern eingetauscht hatten, entsetzten ihn regelrecht. Er
verzichtete infolgedessen auf Wettkämpfe und weitere Meisterschaften, zog sich
aus dem Vereinsleben zurück. Nur manchmal noch, wenn er glaubte, sich eine
Pause von seinen philosophisch-politischen Studien gönnen zu dürfen, holte er
das kleine klappbare Taschenbrett hervor, baute irgendeine komplexe
Problemstellung auf und ruhte nicht eher, bis er die Lösung gefunden hatte. Max
hingegen war so gar kein Spieler. Abgesehen von ein wenig Rommé und Canasta im
Urlaub mit den Eltern hatte er nie Karten in der Hand gehalten, selbst wo es in
der Schule zum guten Ton gehörte, in den Pausen, nachts im Schlafsaal, ja
manchmal sogar während der Schulstunden heimlich unter der Bank Skat zu
spielen, um einen viertel Pfennig pro Punkt. Er hatte als Kind nicht einmal
Murmeln besessen. Auch als Sportler zeigte er keinerlei Ehrgeiz. Die Turnerei
war ihm gar so verhaßt, daß er sich strikt weigerte, Reck, Bock und Barren auch
nur zu berühren. Er hockte sich abseits und ließ sich eine Vier geben. Und
Rutenschläge auf den entblößten Hintern.
    Anfang Februar 1928 kam es zum Skandal am Potsdamer
Jesuitenkolleg. Ein Lehrer für Latein und Altgriechisch, Jonathan Fink, noch
keine dreißig Jahre alt, entschloß sich zum Freitod durch einen Sprung in die
eiseskalte Havel. In seinem Nachlaß wurden Dutzende nie abgeschickte
Liebesbriefe an Max Loewe gefunden. Niemand war gewillt, darum ein Aufhebens zu
machen, bis auf Jonathan Finks langjährige und vor der Welt geheimgehaltene
Braut Anna Tritt, die erst auf der Herausgabe seiner persönlichen Habe bestand
und dann, verständlicherweise, Aufklärung darüber begehrte, was mit ihrem
Bräutigam los gewesen war. Sie konfrontierte den eben dreizehn gewordenen Max
mit jenen Briefen, wobei sie ihm nur ein paar jugendfreie Passagen – im Grunde
die einigen wenigen jugendfreien Passagen – auf einer Parkbank vorlas. Max tat
erstaunt, als begriffe er überhaupt nicht, womit er es hier zu tun habe. Nein,
der Herr Fink habe sich ihm nie indiskret genähert, was sie denn mit ›genähert‹
eigentlich meine? Diese Auskunft genügte dem dreiundwanzigjährigen Fräulein
Tritt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher