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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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Stirner beeindruckt zeigte (nicht
etwa überzeugt, nur eben beeindruckt), meinte Karl trocken, der sei an einem
Insektenstich gestorben, und das nicht etwa im Dschungel, sondern mitten in
Berlin. Max reagierte ob der substanzlosen Sottise beleidigt. Als sei aus
Stirners Denken ein Luftballon erwachsen, der beim ersten Mückenstich
zerplatzen müsse – Karls rücksichtsloses Von-Oben-Dahergerede war schwer zu
ertragen.
    Max liebte es, Schopenhauer zu lesen, allein er wußte
daraus keine praktischen Schlüsse zu ziehen, es sei denn, gegen fast alles
Mißtrauen zu hegen und der Lebenslust, vor allem in Form jugendlicher
Gestaltungssucht, nicht zu vertrauen. Max fühlte sich, gerade dadurch, daß er
noch kein System, keine höhere Wahrheit gefunden hatte, die er als Fahne vor
sich hertragen konnte, seinem Bruder überlegen. Karls Verhalten erklärte er
sich folgerichtig, wenn auch faktisch unzutreffend, mit dessen Frustration, auf
dem Weg der geistigen Vervollkommnung nicht Schritt halten zu können. Er hätte
sich nicht schlecht gewundert, hätte er erfahren, daß Karl über ihn ganz
ähnlich dachte. Mit sogar noch etwas mehr Überheblichkeit.
    Nach Jonathan Fink, der ihm Schopenhauer so erfolgreich
wie Kant (zu blutleer) erfolglos anempfohlen hatte, wurde Friedrich Nietzsche
zum entscheidenden Einfluß für Max. Mit vierzehn Jahren geriet er an ein
Exemplar der »Fröhlichen Wissenschaft«, was in eine drei Jahre dauernde Ekstase
mündete. Er betrat mit der Lektüre jenes Buches nicht etwa fremdes Terrain,
nein. Er empfing eine zweite Taufe, stürmte, zitternden Herzens, den Palast
eines Denkers, der alles, was zuvor für sicher und indiskutabel galt,
zertrümmert hatte. Der mit dem großen Hammer der Vernichtung philosophierte und
seine Leser losließ aufs tabulose Denken an sich. Der jedes Individuum, das ihm
verfallen war, in eine von Gemeinplätzen und Vorurteilen unumstellte Zone
zwang. Mit seiner Sprache, seinen fast ausnahmlos trinkbaren Sätzen, bewirkte
er zugleich, daß sich das aller Sicherheiten beraubte Individuum in der neuen
Freiheit nicht nur frei und nackt, sondern sogar wohl und kreativ fühlte,
beinahe wie ein junger, aufbegehrender Prometheus, dem alles Allzumenschliche
ebenso vertraut wie krank und überwindbar erschien. Bis am Horizont des neuen
Denkens der drohende Nihilismus überwunden und eine neue Ordnung der Dinge
entstanden sein würde, jenseits der paulinisch-christlichen Moral, der billigen
und überkommenen Einteilung in Gut und Böse. Die Unschuld des Werdens,
verbunden mit dem Willen zur Macht. Max konnte seinem Bruder endlich eine weit
höhere Vision entgegensetzen, und wie so viele Jugendliche unter dem Einfluß
dieses Denkers schnappte er über, glaubte sich dazu ausersehen, eines Tages die
Papier gebliebenen Gedanken des Riesen in Taten zu übertragen. An ihm würde
letztendlich die Umsetzung jener Neu-Ordnung der Welt liegen. Denn niemand
sonst begriff Nietzsche so gut wie Max Loewe. Fand Max Loewe, der gebenedeit
war unter den Jünglingen. Der sich im Stande der Gnade wähnte, wie alle
Beseelten, die ein elitäres Ideal und Dogma für sich gefunden hatten. Denn ER
hatte die Himmel geleert, hatte einen schon lange an seiner Ausgedachtheit
leidenden Gott getötet und dem verwaisten Menschen dessen Krone aufgesetzt. Max
fühlte sich wie einer jener zuvor blinden Sklaven, die plötzlich sehen und
urteilen können, weil alle Sichtblenden und Kulissen abgeschafft sind und die
Bühne wieder, wie in der Urzeit, das Wesentliche zeigt. Das wüste leere Land
vor dem Zugriff der Spießer und Philister, der Moral und Metaphysik. Max war,
wie viele seiner Zeitgenossen, auf dem langen Pfad hin zum Übermenschen
gelandet und entwickelte eine jugendlich-starke Verachtung gegen alles, was ihn
begrenzen, behüten, zurück in herkömmlich-triviale Lebensbahnen lenken wollte.
Gott war tot und Nietzsche ein Prophet. Max’ Verehrung für den im
syphilitischen Wahnsinn gestorbenen Philosophen ging indes noch einen Schritt
weiter. Er hielt sich bald für den wiedergeborenen Nietzsche selbst. Denn
Nietzsche war um zehn Uhr morgens geboren worden, genau wie Max, und er war auf
dem linken Auge etwas kurzsichtiger gewesen als auf dem rechten. Genau wie Max.
Da war kein vernünftiger Zweifel mehr möglich.
    In diesen Jahren entwickelten sich die Loewe-Brüder in zwei fast
gegenläufige Richtungen, wurden sich mehr als nur fremd. Karl, obwohl mehrmals
mit Inbrunst darauf hingewiesen, vermochte der Lektüre
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