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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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Kommunismus die
einzig relevante humanistische Bewegung war und die Weltrevolution der einzig
sinnvolle Kampf. Max hielt Karls Sowjet-Affinität für eine, wie er es nannte,
Bübchenliebschaft, eine Utopie primitiver Denkart. Karl beurteilte seinen
Bruder nicht weniger streng. Max habe den roten Faden noch nicht entdeckt im
Labyrinth seiner Orientierungslosigkeit, paktiere mit extremen, elitären
Positionen, die sich selbst nicht ganz geheuer seien und ihren irrationalen
Kitzel aus überzogenem Pathos, glasigen Phrasen und expressionistischer Lyrik
bezögen. Er suche verkrampft nach Fluchtwegen aus dem Großbürgertum, beharre
auf einer fatalen und illusionistischen Überheblichkeit gegenüber seinen
Mitmenschen, das sei nichts anderes als metrisch verbrämtes Köcheln im eigenen
Saft, führe zwangsläufig zur Trunk- und Abenteuersucht und müsse letztlich in
den fundamentalen Selbstzweifel, ja in den Selbstmord münden. Im Ergebnis drohe
ein fahrlässig vergeudetes Leben. So redete der wütende Karl – im Gespräch mit
seinem Vater – über den eigenen, einzigen Bruder.
    Theodor Loewe nickte nur, er war durch Krankheiten und
Lebenserfahrung zu alt und verlebt, um noch überzeugend eine Position zu
beziehen, die er nicht anderntags schwer angezweifelt hätte. Politische Tiraden
hinterließen in ihm ein Gefühl dumpfer Mattigkeit. Vielleicht hatte Karl recht,
vielleicht auch nicht, wer vermochte das schon zu beurteilen, jetzt? Wo das
Leben der beiden jungen Männer doch eben erst begonnen hatte und die Zukunft
sich Optionen in jede Richtung vorbehielt. Theodor Loewe gab auf. Nicht wie man
aufgibt im Bewußtsein, versagt zu haben. Eher so, wie man etwas losläßt, von
sich stößt, das einem keine Freude mehr bereiten will.
    Es war Zeit, fand er, zu sterben, und die Beantwortung drängender
    Fragen anderen zu überlassen. So starb der Gerichtsrat a. D., mit sehr
gemischten Gefühlen, in seinem 67. Lebensjahr an einem Schlaganfall. Er war in
der Todessekunde stolz auf seine Sprößlinge, und doch voller Sorge, nicht alles
in seinem oder in ihrem Sinne geregelt zu haben, was wiederum – das war sein
nun wirklich allerletzter, nicht ganz zu Ende gebrachter Gedanke – nun einmal
das Los jeglicher zum Verfall bestimmten Entitäten ist, nämlich beleidigt zu
sein (daß ohne einen alles irgendwie weitergehen wird, und oft ganz anders als
vorhergesehen).
    Beim Begräbnis, im September 1932, sprach Karl kaum ein
Wort über den eigenen Vater, überließ die Leichenrede dem bestellten Priester.
Dies hatte seinen tieferen, niemandem je offenbarten Grund darin, daß Karl bei
öffentlichen Reden oft, egal worum es ging, die Tränen in die Augen traten, was
ihm sehr peinlich war.
    Hinterher, beim Leichenschmaus im Gasthof zur Eule,
überraschte er die Verwandtschaft durch anhängliche Redseligkeit, als wäre er
betrunken. Insbesondere überrumpelte er den Bruder durch sein absurdes Angebot,
Brüderschaft zu trinken, und zwar mit Sprudelwasser, was denn auch geschah. Max
war seinem Wesen nach zu sentimental, um gegen unvorhersehbare
Versöhnungsangebote gefeit zu sein. Er ärgerte sich immens über seine Schwäche,
wider jede Überzeugung gerührt zu reagieren, sobald er angemenschelt wurde.
    Nietzsche, dachte er dabei, hätte das sicher nicht für gut
befunden. Es
fehlt mir an Härte , notierte er am Morgen danach in einer Art
Tagebuch. Ich
schleife mich ab an so vielem, das ich zerschneiden müßte. Ich werde nie ein
Diamant sein. Spiegele das Licht nur wider, statt zu strahlen.
    Karl fand unter anderem lobende Worte über den immer noch
jungen Brecht, der sich politisch ja überraschend positiv entwickelt habe und
nun endlich klare, verständliche Werke zur Aufklärung der Arbeiter verfasse. Den Baal müsse man nun definitiv anders lesen und bewerten, als eine Art Abgesang auf
spätbürgerlich-dekadente individuelle Veitstänze. Max schwieg beharrlich und
ließ sich auf Debatten nicht ein, die er als schwer deplaziert empfand.
    Es ging doch darum, den Vater zu Grabe, nicht irgendwelche
Gesinnungskämpfe auszutragen.
    Dafür war nicht die Zeit und der Ort, hier, in einem Potsdamer
Gasthof, bei Schweinsbraten und dunklem Bier, an dem Max sich betrank, bis er
sich übergeben mußte.
    Das Testament des Gerichtsrats bedachte beide Söhne
paritätisch. Irgendetwas anderes hätte die Zwillinge auch überrascht. Sie
feierten eine von niederen Zwängen freie Zukunft, sahen sich imstande, die
nächsten Jahre nach eigenem Gutdünken zu
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