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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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ihr mitzuteilen, was er von so viel
Verkommenheit hielt. Die Liebe, die er für das Mädchen empfunden hatte, trug er
mit großer Anteilnahme zu Grab.
    Ansonsten verlief die Schulzeit der Loewes weitgehend
konfliktfrei. Um den Anforderungen der modernen Zeit zu entsprechen, auch weil
sie nicht mehr mit katholischer Theologie belästigt und mit Ruten gezüchtigt
werden wollten, wechselten sie (das Potsdamer Jesuitenkolleg wurde ohnehin
aufgelöst und in Berlin neu gegründet) ab der Obersekunda an die
Humboldt-Oberrealschule, wo sie nach Latein und Altgriechisch auch Englisch und
Französisch lernten, die Sprachen der Weltkriegssieger.
    Vater Theodor, der von Gicht und Arthrosen geplagt war, fand es eine
gute Idee, seinen Söhnen den Weg zur Diplomatenlaufbahn zu ebnen, damit sie,
anders als er selbst, einmal etwas sehen würden von der Welt.
    Wer nicht mindestens
ein oder zwei Auslandsaufenthalte hinter sich gebracht, wer nicht London und
Paris besucht hatte, gelte in der gehobenen Schicht inzwischen nichts mehr.
Behaupteten unisono die Loewe-Brüder, so wie umgekehrt Abertausende
englischer und französischer Söhne aus besserem Hause behaupteten, daß man im
sagenhaften Berlin gewesen sein müsse, um einen gewissen Grad an Weltläufigkeit
zu erreichen. 1932 waren Max und Karl siebzehn und bestanden ihr Abitur mit
Einserschnitten. Der Vater spendierte beiden eine Reise. Karl durfte im Sommer
für vier Wochen nach London, Max nach Paris. Sie bekamen jeweils 400 Mark
Reisegeld, eine großzügige Summe. Karl hielt sich viel in der Londoner
Staatsbibliothek auf, gab wenig Geld aus und legte am Grab seines Namensvetters
Marx ein Bukett aus roten Rosen nieder. Wovon er dem Vater mit Rücksicht auf
dessen politische Unbedarftheit nichts erzählte. Max verlor sein Kapital bei
einem stark überteuerten Besuch im Bordell und sah sich leider gezwungen, dem
Vater davon zu erzählen, damit der ihn auslösen konnte. Theodor Loewe hatte
seine Liebe stets auf beide Söhne gleichermaßen verteilt. Doch wenn er ehrlich
zu sich war, liebte er Max etwas mehr, allein, weil der viel öfter
Gelegenheiten bot, ihm zu verzeihen. Theodor Loewe, der sich verbraucht und
unnütz vorkam, verzieh so gern. Es war ihm ein Genuß, ja eine echte Lust, um
Pardon gebeten zu werden und den auch zu gewähren. Karl hingegen geriet so gut
wie nie in Bedrängnis oder in irgendeine Abhängigkeit zum Vater, er war der
mustergültige Sohn, beinahe schon abstoßend reif. Max gewöhnte sich in Paris das
Trinken an, Karl jedoch empfand jede Beeinträchtigung seines Denkvermögens
durch Alkohol als Selbstverstümmelung. Max war nach Nietzsche sehr diffusen
Einflüssen ausgesetzt, darunter Klages, Rilke, Spengler und Jünger, aber auch
Trakl, Heym, die Futuristen um Marinetti und sogar einige Vertreter des
Dadaismus hatten es ihm angetan, sein Lieblingsstück war der Baal, von dem noch
jungen Kleistpreisträger Bertolt Brecht. Ein Drama, das Karl lange Zeit
abscheulich fand, eine schwarze Messe aus Menschen- und Frauenverachtung, ein
zur Selbstzerstörung anstiftendes Machwerk aus Weltekel und hysterischer
Selbstüberschätzung.
    Max Loewes Nietzsche-Engagement hatte an Verve eingebüßt,
mangels sichtbarer Fortschritte. Hätte Deutschland den Weltkrieg nicht
verloren, dann – glaubte er, wäre manches vielleicht ganz anders verlaufen. So
aber regierte der Alltag die Menschen, zwang sie, kleinlichen Bedürfnissen
nachzugeben, auf Kosten der großen Aussicht. Max’ ehrgeizige Vision, das
deutsche Volk, die Kulturnation Nummer eins in der Welt, in einer Allianz mit
den ja auch einigermaßen kultivierten Franzosen zu Vorreitern einer alles
umwälzenden philosophischen Bewegung zu erziehen, auf welche Weise auch immer,
wurde weniger und weniger wahrscheinlich. Die Menschen, das mußte er
schmerzlich einsehen, strebten in der großen Mehrzahl nicht dem Übermenschen
zu, sondern dem Stück Fleisch am Sonntag und genügend Brot und Kartoffeln unter
der Woche.
    Max suchte, schwer enttäuscht, nach einem Platz für sich, einem
System von Relevanz, nach jenem festen Punkt im All, von dem aus der alte
Archimedes einst die Erde aus den Angeln hatte heben wollen. Max lebte dahin,
eine heimatlose, flatternde Seele, gepeinigt von der Sehnsucht, dem Geschehen
anders denn als Außenseiter zusehen zu müssen. Wieder und wieder ertappte er
sich bei dem doch eigenartigen Phänomen, auf etwas für minderwertig Befundenes
Neid zu entwickeln, konkret auf seinen Bruder, für den der
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