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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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gestalten und die Pläne, die der entmachtete,
nun verwesende Vater für sie gehabt hatte, erst einmal ruhen zu lassen. Max
begriff, warum Karl auf dem Leichenbegängnis so euphorisch und mitteilsam
gewesen war. Ihm, mit ein wenig Verspätung, ging es ja genauso. Man muß das als
Geschenk begreifen , notierte Max in seinem Tage- oder Notizbuch. In einer Zeit wie
dieser nicht hungern zu müssen, sondern versorgt zu sein, mehr als versorgt,
beschert, wie an Weihnachten. Dadurch, daß die Alten abtreten, ohne die ihnen
gegebene Zeit über Gebühr auszureizen, machen sie uns Nachgeborenen einiges
möglich. Es lebe der Tod!
    Max und Karl kamen überein, die riesige Potsdamer Wohnung
samt biedermeierlichem Interieur zu verkaufen, den Erlös zu teilen und zwei
kleinere Wohnungen in Berlin zu erwerben. Karl zog in den Wedding, ein
schmutziges Arbeiterviertel und eine traditionelle Hochburg der Roten. Aber
auch in diesem Sttadteil, vor allem dort, wo er an Mitte grenzte, fand man
Straßen, in denen es sich leben ließ. Max bevorzugte die Gegend um den
Nollendorfplatz in Schöneberg, wo es viele Bordelle und anrüchige Lokale gab,
darunter auch solche mit homosexueller Klientel. Ernst Jünger hatte ein paar
Jahre, gar nicht lange her, drei Hausnummern weiter gewohnt; Else
Lasker-Schüler (die von Max aber so gar nicht geschätzt wurde) wohnte immer
noch da, und man mußte mit der U -Bahn nur ein paar
Stationen fahren, bis man vor der Arztpraxis von Gottfried Benn stand, der im
Nebenberuf einer von Max’ bevorzugten bis schwer verehrten Lyrikern war. Um
sich von ihm behandeln zu lassen, erwog Max ernsthaft, sich eine minderschwere
Haut- oder Geschlechtskrankheit einzufangen, er wußte nur noch nicht, wo. Das
würde sich mit der Zeit ergeben.
    Max gewann an Welterfahrung vor allem im erotischen Bereich, was,
wie er später in seinem Sudelbuch notierte, der schnellste Weg sei, jedwede schöne
Illusion durch grauenvolle Wahrheiten zu ersetzen.
    Er schlief mit Frauen, öfter aber mit Männern. Sein Wesen besaß auf
unstete, brüchige Naturen große Anziehungskraft, verfügte über jenen
verschattet moribunden Charme, dem man für Tage und Wochen verfällt, bevor er
einem auf die Nerven zu gehen beginnt. Max pflegte etliche Beziehungen
gleichzeitig. Keine dauerte lange, noch war je von Liebe die Rede. Physisch
ähnelte er einem Schiele-Motiv, dürr, mit heraustretenden Rippen, riesigen
Füßen und kurzgeschorenen Haaren. Sein trauriger, oft wie hilfesuchend im
Zimmer umherwandernder Blick wirkte auf viele Betrachter unheimlich, auch
gehörte er jener seltenen Sorte von Menschen an, die zu faszinieren imstande sind,
obwohl sie bevorzugt schweigen, selten Bonmots und niemals Witze in die
Konversation streuen. Karl war ganz anders, er rasierte sich nicht, seine eher
pyknische Erscheinung wurde von einem Dschungel aus braunen Locken gekrönt, und
er redete viel, während er selten masturbierte, nie ins Bordell ging und darauf
hoffte, eines Tages in der vorüberschwappenden Menge die große Gefährtin zu
erkennen, mit der er den Rest des Lebens verbringen würde. Kleinere
Techtelmechtel zur Triebstillegung, dachte er, würden nur seinen Blick trüben,
für die eine, Einzige, Wesentliche. Seltsamerweise deckte sich eine solche
Erwartungshaltung, eine solche Fokussierung auf das Rarissimum, so gar nicht
mit seinem Glauben an die Grundähnlichkeit aller Menschen. Ja, es schien, als
hätten die Brüder jeweils ein sexuelles Dogma entwickelt, das sich konträr zu
ihren weltanschaulichen Positionen verhielt.
    Als ihr gesetzlicher Vormund wurde ein Onkel eingesetzt,
Theodors älterer Bruder Ernst, der mit seinen 78 Jahren kaum noch in der Lage
war, den Freiraum der jungen Loewes einzuschränken, geschweige denn
erzieherisch auszugestalten. Wo er eine Unterschrift leisten mußte, tat er dies
wie eine lästige Pflicht, die ihn nichts weiter anging. Bald sparten sich Max
und Karl denn auch den Brief oder die jeweilige Zugfahrt nach Leipzig und
fälschten die Unterschrift des Onkels. Nicht, weil sie seinen Einspruch zu
fürchten gehabt hätten, sondern weil die Prozedur ja doch nur reine Formalie
gewesen wäre.
    Ernst-Erich Loewe, ein ehemals mittelmäßig erfolgreicher
Kolonialwarenhändler, der zeit seines Lebens auf emotionale Bindungen jeglicher
Art verzichtet hatte und inzwischen damit zufrieden war, wenn er mit heißem
englischem Schwarztee, in eine Decke gehüllt, vor seinem Weltempfänger hocken
und am Sendersuchknopf drehen konnte,
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