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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen
Autoren: H Krausser
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Nietzsches nicht
annähernd ähnliche Begeisterung abzugewinnen. Im Gegenteil. Er nannte dessen
Tonfall schwärmerisch und wenig konkret, viel zu sprunghaft, pointiert, rein
auf Wirkung geschrieben. Zu metaphorisch für Philosophie, zu aphoristisch für
eine systematische Phänomenologie. Sektiererische, elitäre Zuckerwatte, die den
einfachen Menschen außen vor ließ, ja verachtete. Max war über diese
Beurteilung – Lästerung – derart entsetzt, daß er seinem Bruder eine Ohrfeige
verpaßte. Die Brüder hatten noch kein einziges Mal miteinander gerauft oder
sich gar geprügelt. Nun wäre es beinahe dazu gekommen. Aber Karl wandte sich
nur ab und ging dem Konflikt aus dem Weg, wie jemand, der es nicht nötig hat,
seine Überzeugung ohne Not mit Gewalt zu verhandeln.
    Max schämte sich hinterher. Nietzsche wäre sicher nie die
Hand ausgerutscht. Einen wie Karl zu berühren, und sei es nur mit den
Fingerspitzen, wäre IHM nicht eingefallen. Wenn
überhaupt, hätte ER ihn über den Haufen geschossen.
Dachte Max. Man muß sich von seinen Blutsbanden befreien, hatte Nietzsche
irgendwo gesagt. Sinngemäß. Muß sich eine neue Familie suchen, eine rein
geistige Verwandtschaft. Alles andere behindere nur die Freiheit, das höchste
Gut des Denkens. Max überlegte, von zu Hause auszureißen, in der weiten Welt
nach jenem Glück zu suchen, das seiner Euphorie angemessen war. Die Welt erwies
sich leider als rückständig. Für die Fremdenlegion war er zu jung. Wo hätte er
sonst hingehen können? Und was hätte mit der Fremdenlegion, selbst wenn er sie
durch aufpeitschende Brandreden zu Nietzsche bekehrt hätte, erreicht werden
können? Zähneknirschend beschloß Max, noch einige Jahre auszuharren, bevor das
erste Fanal möglich wurde, das erste zu setzende Zeichen auf dem Weg in die
völlige Unabhängigkeit. Er war zu jener Zeit wild entschlossen, mehr aus seinem
Leben zu machen als irgendein Mensch zuvor. Den Zarathustra vermochte er
auswendig herzusagen, er hätte sich vor keiner Diskussion mit belesensten
Nietzsche-Exegeten gescheut.
    Erst die Gier auf das Mädchen Irmgard, eine drahtige Blondine aus
der Nachbarschaft, die Max mit ihrer kleinen Lücke zwischen den oberen
Schneidezähnen schier wahnsinnig machte, brachte ihn der rückständigen Welt und
dem verdorbenen Bruder wieder näher. Denn ausgerechnet Karl, als wollte er den
Bruder ärgern, lud Irmgard, dieses geistig schlichte Gezücht einer
Arbeiterfamilie, ins Kino ein, sie sahen sich Chaplins The Kid an, lachten und
weinten zusammen, und am Ende bekam Karl zum Dank für den gelungenen Nachmittag
einen Kuß auf die Wange. Wovon er Max voller Stolz, nicht ohne Bosheit,
berichtete und das Geschehene sogar ein wenig ausschmückte. Irmgards
verschwitzter Handteller habe, behauptete Karl, heiß auf seinem Nacken gelegen,
sie habe ihn an sich herangezogen, und er hätte seine Zunge in ihren Mund
stekken können, wenn ihm dergleichen nicht als zu frühe Verpflichtung
vorgekommen wäre. In der darauffolgenden Nacht bekämpfte Max seine Eifersucht
durch exzessive Masturbation, fand sich endgültig zurückgeschleudert in die
Allzumenschlichkeit des Daseins. Irmgard, und das war die eigentliche Tragik
der Episode, konnte mit dem etwas schüchternen, ungelenken Karl wenig anfangen,
es kam nie zu mehr als jenem scheuen Wangenkuß. Wenn Max, den sie ungleich
interessanter fand, sie fortan nicht demonstrativ geschnitten, wie eine
Unterleibskranke behandelt hätte, wäre sie ihm aller Wahrscheinlichkeit nach
verfallen, und er hätte seinen Wunschtraum, einmal mit der Zungenspitze in
ihrer Zahnlücke zu wühlen, in die Tat umsetzen können. Jede Jugend ist eine Tragödie verpaßter
Möglichkeiten, die widerwillig zur Komödie wird . Notierte Max
einige Jahre später in seinem Sudelbuch. Karl hatte ihm inzwischen gestanden,
damals geschwindelt und übertrieben zu haben, aber es war für fast alles zu
spät. Irmgard hatte mit achtzehn Jahren einen Stahlarbeiter geheiratet, der sie
sogleich schwängerte, somit jeglicher Attraktivität beraubte und in einen
banalen Alltag zwang. Das Mädchen, aus dem womöglich viel mehr hätte werden
können, wurde glücklich. Das immerhin. Zum Kotzen, dachte Max, als er Irmgard
eines Tages auf der Straße traf und ein paar Worte mit ihr wechselte.
Glückliche Menschen waren nach seiner Auffassung am Tiefpunkt des Bewußtseins
angelangt und von Tieren im Zoo kaum unterscheidbar. Nur Irmgards immer noch
irritierende Zahnlücke hielt ihn davon ab,
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