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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels
Autoren: Sabine Weigand
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Prolog: Marburg 1187
    E r schrie. Ein dünner, heller Ton, der die Dunkelheit zerschnitt und hinaufstieg bis zum bleichen Mond. Die Tauben, die im Gebälk über der Dachkammer nisteten, schraken hoch und schlugen aufgeregt mit den Flügeln. Dann war wieder Stille. Nur der Hund des Lohgerbers bellte, ein zweiter antwortete, dann ein dritter. Irgendwo ging ein Licht an.
    Er schrie noch einmal, verzweifelt, panisch. Warum half ihm nur keiner? Hörte ihn denn niemand? Irgendjemand musste ihn doch retten! Er wusste, er würde nicht mehr lange weiterrennen können, vor lauter Keuchen brannte es ihm wie Feuer in der Brust, jeder Atemzug schmerzte, und in seinen Ohren rauschte das Blut. Hinter sich hörte er das Schnauben und Geifern seines Verfolgers, ihm war, als spüre er schon die sengende Hitze, die von ihm ausging. Da, endlich hatte er die Treppe erreicht! Er stolperte hinauf, musste die Hände zu Hilfe nehmen, um nicht zu fallen. Höher und immer höher taumelte er, dorthin, wo er die Tür wusste. Aber die Treppe nahm kein Ende. Sie hörte einfach nicht auf. Stufe für Stufe kämpfte er sich nach oben, aber da war keine Pforte, kein Licht, keine Rettung. Schon ritzten die Krallen des Teufels seine Haut, zu Hilfe, er packte ihn an! Gleich würde er ihn verschlingen, mit Haut und Haar, ganz und gar, ihn hineinfressen in seinen gierigen Schlund, hinabwürgen in den nimmersatten Bauch. Er kämpfte gegen das Höllentier mit allerletzter Kraft, schlug, strampelte, biss und kratzte.
    Plötzlich wurde es hell. Jemand hielt seine Hände mit sanfter Gewalt fest, und dann – der Klang einer vertrauten Stimme, beruhigend und leise. Er hörte auf, sich zu wehren.
    »Ruhig, sei ruhig, mein Bub. Es ist ja gut, alles ist gut.«
    Die Mutter wiegte ihn in den Armen, tröstete ihn, strich ihm übers schweißnasse Haar. Er ließ sich fallen, entspannte sich und spürte unendliche, unaussprechliche Erleichterung.
    »Hat dich wieder ein Alb gedrückt?« Die Mutter sah ihn mitleidig an.
    »Der Teufel«, schluchzte er, »der Teufel … er ist … er wollte … es war so schlimm …«
    »Mein armer kleiner Liebling«, murmelte die Mutter, »das war ein schlechter Traum. Musst keine Angst mehr haben.«
    Er blinzelte mit tränennassen Augen. »Aber der Herr Pfarrer hat gesagt, der Luzifer kommt und holt die bösen Kinder, und er nimmt sie mit in die Hölle.«
    »Aber wo. Der Luzifer kann uns gar nichts tun.« Die Mutter streichelte seine Wange. »Wir sind doch alle gute Christenmenschen. Da kann er nichts gegen uns ausrichten.«
    »Aber der Herr Pfarrer …«
    »Schschscht. Weißt du, was? Wir sagen jetzt miteinander ein Paternoster, und dann schläfst du schön weiter, ja?«
    Sie schloss seine gefalteten Hände in ihre und betete mit ihm leise auf Lateinisch. Dann nahm sie ihre Halskette mit dem hübsch geschnitzten elfenbeinernen Kruzifix ab und legte sie ihm um den Hals. »Schau, jetzt kann dir der Luzifer nichts mehr anhaben. Das Kreuz beschützt dich.«
    »Aber der Herr Pfarrer …«
    Sie schüttelte den Kopf und sah ihrem Sohn fest in die Augen. »Denk nicht mehr an den Herrn Pfarrer. Ich verspreche dir, dass der Teufel nicht die Macht hat, dir auch nur das kleinste bisschen zu schaden. Und jetzt schon gar nicht mehr – du hast ja jetzt mein Kruzifix.«
    Er richtete sich auf. »Schwörst du’s? Bei allem, was dir heilig ist?«
    Sie seufzte und drückte ihn sanft in die Kissen zurück. »So wahr ich deine Mutter bin und lebe«, sagte sie mit fester Stimme. Dann deckte sie ihn zu und küsste seine Stirn. »Schlaf gut«, flüsterte sie, bevor sie wieder zur großen Bettstatt hinüberging, wo ihr Mann leise schnarchend auf dem Bauch lag.
    Der Junge schloss folgsam die Augen, und noch bevor seine Mutter das Laken über sich gezogen hatte, war er auch schon eingeschlafen.
    Man schrieb das Jahr 1187 . Es war Winter.
     
    Zu Marburg gab es nur wenige Steinhäuser. Das kleine Städtchen an der Lahn bestand aus Holz- oder Fachwerkgebäuden, oft noch strohgedeckt, in denen sich als einziger Luxus gerade einmal eine kniehoch gemauerte Herdstelle fand. Hier lebten die einfachen Leute. Die Steinhäuser hingegen gehörten den Burgmannen, allesamt kleinere Ministerialen der Landgrafen von Thüringen und Hessen, die mit ihren Familien das Privileg genossen, herrschaftlich zu wohnen. Als Gegenleistung waren sie zum Burgdienst verpflichtet.
    In einem dieser gemauerten Häuser war der kleine, rothaarige Junge aufgewachsen, zusammen mit drei viel
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