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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Autoren: Friedrich Ani
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Erster Teil
    1
    A m zehnten Todestag ihres Sohnes wurde Edith Liebergesell jäh bewusst, dass sie seit undenklichen Zeiten niemanden mehr in ihre Wohnung eingeladen hatte. Als sie auf der schwarzen Ledercouch saß und auf ihre Tränen wartete, entwischte ihr Blick dem vom Erinnern verdunkelten Verlies ihrer Augen und fiel auf das Ensemble der Stumpenkerzen, die nebeneinander auf dem niedrigen Bücherschrank standen, in Grün und Gelb und Rot und Weiß und Braun und Beige und Violett und Ocker. Vierzehn Kerzen, jede ungefähr zehn Zentimeter hoch, ohne Verzierung, alle mit weißen Dochten, alle aus dem einzigen Grund gekauft, den Gästen beim Essen und Trinken und Reden mit munterem Flackern Gesellschaft zu leisten.
    Das war es, was Edith Liebergesell sich vorstellte, während sie mit dem gerahmten Foto in den Händen am Rand der Couch saß: dass da wie selbstverständlich Leute waren, die ohne elektrisches Licht eine Nähe teilten. Die rauchten oder auch nicht; die Singles waren oder echte Einzelgänger; die daheim eine Familie hatten oder einen Hund; die, wenn sie redeten, von Zuhörern umgeben waren und nicht von notgedrungen Verstummten; die sich anschauten und an der Tür einander umarmten und beim Abräumen und Abspülen helfen wollten und keine Chance gegen den Willen der Gastgeberin hatten. Die eine Stille zurückließen, in der die Kerzen knisternd musizierten, weit nach Mitternacht, wenn die Weinreste schon in den Gläsern trockneten und die Speisereste auf den Tellern.
    So hätte das alles sein können, sagte sie lautlos und fragte das Bild in ihren Händen, warum ihr erst heute auffiel, dass niemand da war außer ihr.
    Dann Tränen. Das Zimmer versank vor ihren Augen, und als es wieder auftauchte, war vor den Fenstern und in der Wohnung stockdunkle Nacht. Edith Liebergesell wollte aufstehen, aber es gelang ihr nicht. Etwas – nicht ihr elendes Übergewicht, nicht der Schmerz, nicht die trostlose Stille, nicht die Angst vor dem Licht, das sie gleich anschalten musste – zwang sie auszuharren und das Foto nicht loszulassen. Etwas, das sie verblüffte, ließ sie den Kopf heben und zum Flur schauen, durch den Rahmen der ausgehängten Tür. Im Flur war alles schwarz. Und doch war etwas anders als sonst, etwas war nicht in der gewohnten Ordnung, etwas veranlasste Edith Liebergesell, noch weiter an den Rand der Couch zu rutschen und die Knie aneinanderzupressen und die Luft anzuhalten, bis sie einen lauten Seufzer von sich gab, der sie selbst erschreckte.
    Das Foto glitt ihr aus den Händen und fiel aufs Parkett. Das Glas zersplitterte nicht. Sie bückte sich danach, ergriff es mit Daumen und Zeigefinger am Rahmen und hob es auf. Sie betrachtete das vertraute, verschattete Jungengesicht mit den schmalen, müden Augen und sah noch einmal zur Tür. Sie atmete mit offenem Mund tief ein, was wie ein Röcheln im Schlaf klang, und stand mit einem Ruck auf.
    Das, was sie soeben noch niedergedrückt und verstört hatte, schien wie bei einer Explosion aus ihr herauszubrechen.
    In diesem Augenblick zerschmetterte ein Gedanke alle anderen, loderte eine Empfindung in ihr auf, wobei sie keine Vorstellung davon hatte, wodurch diese entzündet worden sein mochte und der sie sich doch wehrlos hingab. Es ist passiert, dachte sie vom Herzen her. Heute ist es so weit, heute und von dieser Stunde an.
    Zehn Jahre nach Ingmars Entführung und Ermordung stand Edith Liebergesell in ihrer Wohnung, beseelt von der Vorstellung, dass der Abschied von nun an kein blutiger Prozess mehr war, sondern eine Narbe, die zu ihr gehörte wie ihre Stimme. Sie war ein Teil ihrer Persönlichkeit. Ingmars Tod gehörte nicht länger dem Täter, sondern allein ihr, seiner Mutter.
    Beinahe hätte sie noch einmal angefangen zu weinen. Sie stellte das gerahmte Bild ins Regal zurück, drückte auf den Lichtschalter neben der Tür und beschloss, die Kerzen anzuzünden, alle vierzehn, zehn für ihren Sohn, zwei für dessen Vater und zwei für sich. Bevor sie sie im Wohnzimmer, im Flur, in der Küche und im Badezimmer verteilte, rauchte sie bei weit geöffnetem Fenster eine Zigarette. Hätte sie wissen müssen, dass sie über die Ereignisse der Vergangenheit und die Echos ihrer Erinnerung keine Macht besaß, solange Ingmars Ermordung dem Täter bis heute eine Gegenwart erlaubte?

    Das Beste an den Gesprächen mit seinem Vater war, dass er wusste, er könnte sie bis in alle Ewigkeit fortführen. Mit solchen Unterhaltungen in der flüchtigen Dämmerung oder der
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