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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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DER STURZ DES APFELBAUMS
    Die Vorstellung ist gut besucht. Aus dem Zuschauerraum dringt das helle Stimmengewirr gedämpft zu mir in die Dunkelheit hinter der Bühne.
Durch den Guckschlitz im Seitenportal luge ich vorsichtig hinaus. Etwa dreißig oder vierzig Vorschulkinder drängen sich in den Stuhlreihen und verfolgen die merkwürdigen
Bühnengeschehnisse. Ihre vom klirrend kalten Wintermorgen immer noch verrotzten Gesichter leuchten vor Aufregung. Dabei plappern, kichern, tuscheln und zischeln sie durcheinander wie ein
Spatzenschwarm in einer nachtdunklen Baumkrone. An der Rückwand stehen die Tanten, zwei riesige Frauen in wallenden Hosen und wild gemusterten Pullovern. Sie haben ihre Arme vor den gewaltigen
Brüsten verschränkt und überwachen den Raum. Nichts entgeht ihnen, keine versteckten Boxhiebe, Spuckattacken, Heulanfälle oder vorgetäuschten Übelkeitsanflüge.
Ein kurzes Heben der buschigen Augenbrauen genügt, um die Kinder schnell wieder ins unsichtbare Geschirr von Zucht und Ordnung zu spannen. Keine Frage: Die Tanten haben die Sache im Griff.
    Mein Kopf steckt fast zur Gänze zwischen den Falten des schweren Samtvorhangs. Der Staub unzähliger Theateraufführungen kitzelt in meiner Nase. Ich unterdrücke den Niesreiz
und gebe das Zeichen. Die Scheinwerfer gehen aus. Schwarz. Absolute Dunkelheit. Ein kühler Atemhauch an meiner Stirn. Ein Luftzug, der am Vorhang hinunterzugleiten scheint und mein Gesicht
streift. Mit einem blechernen Sirren gehen die Scheinwerfer wieder an. Der Staub tanzt im Licht, das Spatzengezwitscher erstirbt, und ich setze mich in Bewegung.
    Langsam, sehr langsam stakse ich quer über die kleine Bühne bis ganz nach vorne an die Rampe und recke mit hölzernen Bewegungen meine Äste in die Höhe. Die steifen, mit
echter Rinde beklebten Stoffbahnen umspannen meinen Körper, auf meinem Kopf raschelt leise das Laub, meine Äpfel glänzen wie die roten Rotzgesichter der Zuschauer.
    »Guten Morgen, Kinder!«, sage ich mit knarrender Stimme. »Ich bin der Apfelbaum!«
    Wie immer antworten die Kinder, lachen, klatschen, trampeln mit den Füßen. Einige springen sogar auf und rufen mir irgendetwas zu. Ich verstehe sie nicht mehr. Ihre Worte verschwimmen
zu einem einzigen, undeutlich wabernden Geräuschestrom. In meinem Kopf wummert und dröhnt es. Mein ganzer Körper fühlt sich an wie betäubt. Nur im Magen blubbert eine
eklige, dickflüssige Suppe. Ich versuche mich zusammenzureißen und einfach weiterzumachen.
    »Vor Hunderten … von … äh … Jahren … äh …«
    Aus. Der Text ist weg. Wie weggeblasen. Nie da gewesen. Ich stehe hier an der Rampe, dort unten sitzt das Publikum, und ich bin der Apfelbaum, so viel ist klar. Aber was, verdammt nochmal, war
vor Hunderten von Jahren losgewesen?
    »Vor Hunderten … von … äähh …«
    Nichts. Ich spüre, wie mir der kalte Schweiß den Rücken hinunterläuft und sich am Unterhosengummi zu einem kleinen Rinnsal sammelt. Fast im selben Moment wird mir schwarz
vor Augen, und kleine leuchtende Punkte ziehen in seltsam geschwungenen Bögen in meinem Gesichtsfeld vorüber. Der Kreislauf. Eine kurze Schwäche. Das kennt man ja. Das ist nichts.
Das geht vorbei.
    Doch es geht nicht vorbei. Die Punkte vermehren sich mit rasender Geschwindigkeit, beginnen zu tanzen und kleine flinke Kapriolen zu schlagen. Ich versuche es noch einmal:
    »Vor … äh … äähh … ääähhh …«
    Das wars. Endgültig.
    Ich schnappe nach Luft. Reiße den Mund auf. Die Augen. Werfe den Kopf in den Nacken, sehe, wie die Pünktchen über mir verglühen. Es wird dunkel. Es rauscht in der Baumkrone,
die Nacht fällt lautlos vom Himmel, die Sterne verzischen in der tiefen Finsternis, der Boden bricht auf, und ich taumle einem dumpf pochenden Abgrund entgegen.
    Ich werde sterben.
    Ich bin schon tot.
    Es dauert höchstens ein, zwei Sekunden, dann bin ich wieder bei mir. Aber zu spät. Ich wanke bereits, torkele, versuche einen stabilisierenden Ausfallschritt, rudere mit den Armen,
trete auf eine meiner Pappmachéwurzeln, stolpere, verliere das Gleichgewicht und kippe langsam von der Bühne. Gerade noch kann ich erkennen, wie die Kinder nach allen Seiten hin
wegspringen. Gleichzeitig schießen mir in rasender Geschwindigkeit Fragen wie leuchtende Schriftbänder durch den Kopf: Warum bin ich hier? Warum stecke ich ausgerechnet in einem
Apfelbaumkostüm? Was will ich? Wer bin ich? Was zum Teufel ist nur geschehen?!
    Im nächsten Moment krache
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