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Nebra

Nebra

Titel: Nebra
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Schleier über die Szene ge-legt. Zuerst glaubte Hannah, dass ihre Sinne ihr einen Streich spielten, dass ihre Trauer sie übermannt habe. Doch nach einer Weile war sie davon überzeugt, dass etwas anderes vor sich ging. Die einzigen Dinge, die sie deutlich erkennen konnte, waren der Dolch in ihren Händen und der Dämon auf der anderen Seite der Höhle. Eigenartigerweise sah er überhaupt nicht mehr erschreckend aus. Die Flammen um ihn herum waren fast gänzlich verschwunden. Zu sehen war ein junger Mann mit schlanken Gliedmaßen und einem länglichen, beinahe traurig anmutenden Gesicht. Er war immer noch viel größer als ein normaler Mensch, und auch seine Augen wirkten fremdartig - die Pupillen waren länglich wie bei Raubkatzen -, doch schien von ihm keine Bedrohung auszugehen. Dann sprach er zu ihr. Seine Stimme war sanft und leise und voller Anmut. Er sprach zu ihr in einer alten Sprache, deren Sinn Hannah jedoch sofort begriff. Sie antwortete in derselben Sprache, und es war, als habe sie nie etwas anderes gesprochen.
    Mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung blickte John auf den Altar. Der Dämon hatte seinen Platz am hinteren Ende der Höhle verlassen und ging gemessenen Schrittes auf Hannah zu. Trotz der Hitze machte die Archäologin keine Anstalten, ihren Platz auf dem Opferstein zu verlassen. Als der Dämon nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, ertrug John die Hitze nicht länger und taumelte einige Schritte zurück. Michael nutzte die Gelegenheit und befreite sich aus dem Klammergriff. Es war unübersehbar, dass er Todesängste durchlitt. Hustend und nach Luft ringend, stolperte er die Höhlenwand entlang zum Ausgang. John sah, wie er mit einem Aufschrei in einem der Seitentunnel verschwand. Welch ein schmachvoller Augenblick: Michael von Stetten - ein Flüchtling im eigenen Reich. Nicht nur, dass seine Hoffnung auf Weltherrschaft sich im Nichts aufgelöst hatte, auch hatte sich seine letzte Trumpfkarte als wirkungslos erwiesen: Die Hoffnung, Hannah würde bei der Kontrolle über das Flammenwesen einen qualvollen Tod sterben, war dahin. Das genaue Gegenteil war der Fall. Der Dämon war jetzt so nahe, dass Hannah eigentlich zu Asche hätte zerfallen müssen. Dort, wo sie stand, musste die Hitze mehrere tausend Grad betragen. Kniend und immer noch den Dolch in den Händen haltend, wirkte sie, als würde sie meditieren. Das Einzige, was sich bewegte, waren ihre Haare, die im heißen Glutwind hin und her flatterten. John spürte, dass er recht gehabt hatte. Wer den Dolch kontrollierte, kontrollierte auch den Dämon. Ein uralter Pakt zwischen Menschen und Unterirdischen. Als Gebieterin über den Dolch drohte Hannah keine Gefahr. Der Dämon schien auf Befehle zu warten. Er kauerte da, die blauen Augen auf Hannah gerichtet. Die Luft in der Höhle war kaum noch zu atmen. Das Feuer schien ihr jeglichen Sauerstoff geraubt zu haben. John spürte die Ohnmacht herannahen, als Hannah ihren Arm bewegte. Mit einer wütenden Geste deutete sie in den Tunnel, in dem Michael verschwunden war. Der Dämon warf den Kopf in den Nacken und gab ein triumphierendes Heulen von sich. Dann schrumpfte er zu einem gleißenden Ball zusammen und verschwand in dem steinernen Labyrinth.
     
     
73
     
    Ida stand auf dem Dach der Jugendherberge und blickte fassungslos über die glühenden Spitzen der Fichten hinweg auf den Brocken. Das Feuer war verschwunden. Zwar flackerten hier und da noch Brandnester im Höhenwald, doch der Großteil der Flammen war erloschen. Der hell leuchtende Kern, von dem aus die Flammen in alle Richtungen geschossen waren, hatte sich buchstäblich von der einen zur anderen Sekunde in Rauch aufgelöst. Ida konnte sich nicht erklären, wie das geschehen war. Es schien, als habe das Feuer genug von seinem Vernichtungsfeldzug und sei zu dem Entschluss gekommen, sich fünfzig Meter vor der Einsatzzentrale einfach aufzulösen.
    Wie so etwas möglich war und welche physikalischen oder meteorologischen Gesetzmäßigkeiten dahinterstecken mochten, entzog sich Idas Vorstellungsvermögen. Für sie war es einfach nur ein Wunder. Steffen schien es nicht anders zu gehen. Seit über fünf Minuten hatte er kein Wort gesagt - ein neuer Rekord. Doch endlich erwachte er aus seiner Lethargie und griff zu seinem Funkgerät. Er tippte auf den Sendeknopf und wartete darauf, dass das Gespräch entgegengenommen wurde. Ein Knacken war zu hören, dann die vertraute Stimme des Piloten. »Helikopter hier. Kommissar Werner, sind
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