Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebra

Nebra

Titel: Nebra
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
1
    Samstag, 30. April 1988
     
    Ein seltsames Geräusch drang durch die Dunkelheit zu ihm herauf.
    Erst von fern, dann stetig näher kommend. Ein dumpfes Schlagen, das durch die Gänge hallte, sich an den Felsen brach und den Boden unter seinen Füßen erzittern ließ. Kein natürliches Geräusch, dafür war es zu rhythmisch. Trommeln vielleicht oder Pauken, begleitet von einem Pfeifen, das wie das Heulen des Windes klang. Waren das Hörner? Aber welches Horn war in der Lage, solche Misstöne zu erzeugen? Was immer sich da in den Eingeweiden der Welt regte, es kam näher.
    Trotz seines Alters - er war immerhin schon siebzehn - weigerte sich der Junge, die Augen zu öffnen. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, doch das war nicht möglich. Die ledernen Riemen, mit denen seine Hände hinter dem Rücken an einem Pflock festgebunden waren, schnitten ihm ins Fleisch. Alle Bemühungen, sie mit seinen tauben Fingern zu öffnen, hatte er längst aufgegeben. Er saß da, vornübergebeugt, das Kinn auf die Brust gesenkt und mühsam nach Luft ringend.
    Hier unten war es mörderisch heiß. Der Schweiß rann ihm in Strömen vom Gesicht. Durch seine geschlossenen Lider hindurch drang das Flackern eines Feuers. Brandig riechende Luft strich über sein schweißgebadetes Gesicht. Zu schwach, um sich aufzurichten, zu verängstigt, um sich dem Anblick seiner Entführer zu stellen, saß er da, hielt die Augenlider fest zusammengepresst und erwartete das Unheil, das da aus den Tiefen des Berges zu ihm emporstieg.
    Der Lärm war mittlerweile zu einem ohrenbetäubenden Crescendo angeschwollen. Stimmen mischten sich in das Heulen und Trommeln, Stimmen, denen etwas Fremdartiges innewohnte. Sie sangen in einer Sprache, die er nicht verstand. Die Silben wehten durcheinander, während aus dem Klangteppich eine einzelne klare Stimme emporstieg. Wie ein Vogel schwebte sie über dem atonalen Chor und sang in einer Schwermut, die überirdisch schön war.
    Unter den geschlossenen Lidern spürte der Junge Tränen hervorquellen. Wie in Trance bewegte er seinen Oberkörper vor und zurück, während er die Melodie aufgriff und mitzusummen begann. Die Musik trug seine Gedanken an einen weit entfernten Ort. Einen Ort, wo ihm der Schrecken und die Verzweiflung nichts anhaben konnten.
    Monoton sang er mit, immer dieselbe Strophe, immer dasselbe Lied.
    »Wach auf«
    Eine Stimme drang zu ihm durch, flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Jetzt mach schon. Ich glaub, ich hab es geschafft. Die Fesseln lockern sich.« Die Stimme war jetzt merklich lauter. Sie drängte, forderte, zischte.
    »Verdammt noch mal, wach endlich auf!« Es hatte keinen Sinn. Er konnte die Stimme nicht länger ignorieren. Widerstrebend schlug er die Augen auf. Zunächst erkannte er nur Farbschleier, doch dann begann sich ein Bild zu formen. Er wandte den Kopf zur Seite und blickte in das Antlitz eines Mädchens. Ihr hübsches Gesicht war schweißüberströmt. An ihrer Schläfe klaffte eine Wunde, ihr pechschwarzes Haar war blutverkrustet.
    »Ich glaub, ich krieg die Fesseln los«, flüsterte sie, sichtlich erleichtert darüber, dass er endlich wieder bei Bewusstsein war. Der Junge schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als würde etwas mit seinem Gleichgewichtsorgan nicht stimmen. »Alles dreht sich in mir«, stammelte er. »Außerdem habe ich einen Riesendurst. Mir klebt die Zunge am Gaumen.« Er versuchte etwas Speichel zu sammeln, aber es ging nicht, sein Mund war völlig ausgetrocknet.
    »Das ist das Zeug, das sie uns gegeben haben«, erwiderte das Mädchen. »Ich habe nur einen kleinen Schluck von dem Gesöff genommen und den Rest ausgespuckt, als sie nicht hingesehen haben. Du scheinst eine ordentliche Ladung abbekommen zu haben, so wie du umgekippt bist. Genau wie die beiden anderen.« Das Mädchen machte eine Bewegung mit dem Kopf und deutete auf die rechte Seite. Dort waren zwei weitere Pflöcke, an denen die ohnmächtigen Gestalten eines Mädchens und eines Jungen hingen. Beide aus ihrer Jahrgangsstufe. Er nickte. Langsam fiel ihm alles wieder ein. Die Klassenfahrt - das Hexenfest in Thale - die nachmittägliche Wanderung. Hatten sie nicht eine Höhle gefunden? Doch, so war es gewesen. Sie wollten sie noch schnell erkunden, ehe der Bus losfuhr. Hatten sie nicht gewartet, bis der Rest der Klasse samt Lehrern lärmend und palavernd im Wald verschwunden war? Und hatten sie dann nicht kehrtgemacht und waren in die Finsternis des Berges eingetaucht? Zwei Jungen und zwei Mädchen -
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher