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Nebra

Nebra

Titel: Nebra
Autoren: Thomas Thiemeyer
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folgten die drei dem sich verzweigenden Höhlensystem, immer weiter und weiter. Die Zeit schien endlos, doch schließlich spürten sie einen frischen Luftzug auf der Haut. Der Ausgang! Nur noch wenige Meter, und sie waren im Freien. Nach Luft ringend, taumelten sie auf eine Lichtung. Über ihnen waren Sterne zu sehen. Der Vollmond warf ein fahles Licht über das Land. »Wohin?«, keuchte das Mädchen. »Egal«, antwortete der Junge. »Hauptsache, weg.« Hals über Kopf stolperten die drei den Berghang hinab. Die Zweige schlugen ihnen ins Gesicht, und mehr als einmal stol-perten sie über eine Wurzel. Sie fielen hin, rappelten sich wieder auf und hasteten weiter. Die Fackel erlosch, doch das war nicht mehr wichtig. Der Mond gab ihnen mehr als genug Licht. Eine halbe Stunde später erreichten sie die Straße, die zum Berg hinaufführte. Erschöpft und zerschunden versuchten sie, sich zu orientieren. Der Mond begann gerade hinter dem Berg zu versinken. Ein geisterhaftes Licht lag über dem Wald. Nebelschwaden waren aufgestiegen, die wie die Seelen verstorbener Bergwanderer zwischen den Baumwipfeln hingen. Der Gipfel war in ein geheimnisvolles Licht getaucht. Es war Walpurgisnacht.
     
     
2
     
    Zwanzig Jahre später. Deir el-Bahari, Ägypten
     
    Der Wüstensand knirschte unter Hannahs Schuhen, als sie den gewundenen Pfad emporstieg. Ein kühler Wind strich vom Nil herauf und fuhr raschelnd durch das Schilf, das rechts und links des Weges stand. Einige ausgefranste Wolken hingen träge am Himmel, der zu dieser frühen Stunde von unzähligen Mauerseglern bevölkert wurde. Hier unten im Tal war es noch dunkel, aber das Morgenlicht streifte bereits die Ränder des Plateaus, hinter dem die Wüste begann. Von irgendwo wehte der Gesang des Muezzins herüber. Es würde wieder ein heißer Tag werden. Die Archäologin blieb kurz stehen. Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und band ihre widerspenstige rotbraune Lockenpracht mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Man hatte ihr schon oft Komplimente wegen ihres Aussehens gemacht, aber sie gab nichts auf solche Äußerlichkeiten. Hier in der Wüste war gutes Aussehen völlig bedeutungslos. Viel wichtiger waren ein scharfer Verstand und eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Sie wusste, dass man früh aufstehen musste, wenn man nicht in die Mittagsglut geraten wollte. Es war eine alte Angewohnheit von ihr, kurz vor Son-nenaufgang aufzustehen. Sowohl die Morgenstunden als auch die Zeit, wenn die Sonne wieder hinter dem Horizont verschwand, waren für Hannah die schönste Zeit des Tages. Für sie, die sich seit annähernd fünfundzwanzig Jahren mit den Schätzen vergangener Kulturen beschäftigte, hatte die Vergänglichkeit ihren eigenen Reiz. Die Vergänglichkeit des Tages ebenso wie die von Kulturen, ja ganzer Epochen. Es waren diese Momente, die sie den unablässigen Strom der Zeit am deutlichsten spüren ließen.
    Sie ging in die Hocke, nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn durch ihre Finger rieseln. Die feinen Körner glitzerten in der Sonne.
    Hannah spürte die Jahrtausende, die in diesen Kristallen lagen. Was hatten diese Körner schon alles gesehen! Den Aufstieg und Fall von Imperien, von Kulturen, die immer mächtiger wurden, ehe sie wieder im Nebel der Zeit verschwanden. Was sie hier mit der Hand fühlte, war pure, unverfälschte Geschichte, und sie spürte das Geheimnis, das in jedem einzelnen dieser Kristalle lag.
    Man hatte ihr immer nachgesagt, dass sie über eine besondere Gabe verfüge, eine Gabe, die es ihr ermöglichte, zum Kern der Dinge vorzustoßen - die Wahrheit darin zu erkennen. Ob das stimmte, wusste sie bis zum heutigen Tage nicht. Klar war nur, dass sie nicht wie andere Menschen war. Sie blies den Sand von ihren Fingern und hob den Kopf. Die Luft war erfüllt von Modergeruch, ein Geruch, der ihr selbst nach einer Woche Ägypten immer noch fremd war. Der Nil roch, man konnte es nicht anders ausdrücken. Er überzog das Land mit einer Duftglocke, die nur an kühleren Tagen etwas an Intensität verlor. Das Wasser stank, die bewachsenen Uferzonen stanken, die Bewässerungsgräben stanken, ja selbst die Felder verströmten diesen unangenehmen Fäulnisgeruch. Andererseits - dies war der Geruch der Fruchtbarkeit. Ohne das träge dahinfließende Wasser, ohne den fruchtbaren Schlamm, der in jüngerer Zeit immer mehr durch Düngemittel ersetzt wurde, hätte es niemals das Reich der Pharaonen gegeben, wären niemals die gewaltigen Bauwerke entstanden,
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