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Nebra

Nebra

Titel: Nebra
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Immer durchscheinender wurde das Material, während die Scheiben an ihren Flanken wie diffuse Sonnen erstrahlten, wie Räder eines feurigen Wagens. In der Höhle war es taghell geworden. Der Junge sah seine Umgebung mit unnatürlicher Schärfe. Es schien fast so, als könne er durch die versammelten Menschen hindurchsehen, so geisterhaft klar stand alles vor seinen Augen. Doch irgendetwas ging schief. Von der einen auf die andere Sekunde erlosch das Licht. Es gab einen Knall, gefolgt von einem tiefen Rumpeln. Ein plötzlicher Windstoß fuhr durch die Höhle und blies den Großteil der Ölfeuer aus. Nur eine einzige Fackel in einem weiter entfernten Gang blieb verschont und spendete weiterhin kümmerliches Licht. Steine lösten sich von der Decke und prasselten herab. Die Kaverne füllte sich mit Staub und Rauch. Schreie ertönten. Durch den Staub hindurch sah der Junge die Silhouetten rennender Menschen, die bei dem Versuch, sich vor den herabfallenden Brocken in Sicherheit zu bringen, panisch durcheinander rannten. Der Junge spürte einen scharfen Schmerz im Genick, genau dort, wo der Teufel ihm das Brandzeichen gesetzt hatte. Zuerst dachte er, dass ihn vielleicht ein Stein getroffen habe. In einer reflexartigen Bewegung griff er an seinen Nacken - und bemerkte, dass er frei war. Seine Hände waren nicht länger an den Pflock gebunden. Ungläubig hielt er sie vors Gesicht und betrachtete sie im ersterbenden Schein der Fackel. »Komm schon«, hörte er ein Zischen an seiner Seite. »Das ist unsere Chance - jetzt oder nie!« Seine Freundin war aufgesprungen und befreite ihren Schulkameraden. Dieser war zwar schwach, schien aber wenigstens bei Bewusstsein zu sein. Sie packte ihn unter der Schulter und half ihm auf die Beine, während sie herüberrief: »Beeil dich! Da drüben, der Gang mit der Fackel. Wir treffen uns dort.«
    Mehr war nicht nötig, um den Jungen wieder zur Besinnung zu bringen. In einem Anflug von Hoffnung sprang er hoch und bahnte sich den Weg durch die taumelnde Menge. Immer noch prasselten Steine von oben herab. Schreie erfüllten die Höhle. Etliche der Anwesenden waren bereits zu Boden gestürzt. Verletzt oder tot, er konnte es nicht erkennen - es war ihm auch egal. Wenn es nach ihm ging, sollten sie doch alle verrecken. Leichtfüßig sprang er über die gekrümmt daliegenden Körper und lief in Richtung des Ganges. Sein Ziel war die Fackel, das letzte Licht in dieser Finsternis. Ohne sie war ihre Flucht zum Scheitern verurteilt.
    Gerade hatte er den Gang erreicht und seine Hand nach der Fackel ausgestreckt, als sich eine haarige Pranke auf seine Schulter legte. Er wirbelte herum und erstarrte vor Entsetzen. Aus einem lehmverschmierten Gesicht funkelten ihn zwei hasserfüllte Augen an.
    Mit übermenschlicher Kraft hielt der Teufelsmensch seinen Arm gepackt und drückte ihn gegen die Wand. Lange schmutzige Fingernägel bohrten sich in sein Fleisch. Einen Schmerzensschrei unterdrückend, griff der Junge mit der anderen Hand nach der Fackel, riss sie aus ihrer Verankerung und schlug damit nach seinem Peiniger. Dumpf krachte das Holz gegen die behaarte Brust. Funken stoben. Der Schlag war so kraftvoll, dass der Teufel einige Schritte zurücktaumelte. Ungläubig blickte er an sich herab. Der Bart und Teile seiner Fellbekleidung hatten Feuer gefangen. Offenbar waren sie mit Wachs oder Öl behandelt worden. Panik leuchtete in den Augen des Teufelsmenschen auf. Mit hektischen Bewegungen versuchte er, die Flammen zu löschen, aber es war sinnlos. Der Junge erkannte seine Chance, sprang vor und drückte die Fackel gegen die Brust seines Widersachers. Im Nu sprang das Feuer vom Oberkörper über auf die Schultern und von dort in Richtung Kopf. Nur wenige Sekunden später, und der ganze Mann stand lichterloh in Flammen. Brennend und unmenschliche Schreie ausstoßend, rannte er zurück in die Höhle, vor bei an den beiden Schülern, die gerade noch ausweichen konnten. Als der Junge sah, wie schwer das Mädchen zu tragen hatte, sagte er: »Überlass ihn mir.« Er drückte dem Mädchen die Fackel in die Hand und stützte seinen Freund. »Lauf du voraus und such den Ausgang«, sagte er zu ihr. »Wenn sie kein Licht mehr haben, verschafft uns das vielleicht einen Vorsprung.«
    Das Mädchen nickte und rannte mit hocherhobener Fackel in den Gang. Die beiden Jungen versuchten ihr zu folgen, so schnell es eben ging. Nur weg von den Schreien, den Flüchen und dem Gestank. Nichts wie weg aus diesem Alptraum. Instinktiv
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