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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom
Autoren: Henri Loevenbruck
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Prolog
01.
    Die Explosion dröhnte so laut, dass man sie im ganzen Westen der Hauptstadt und bis in die benachbarten Gemeinden hörte. Es schien ein Morgen wie jeder andere zu sein. Ein Sommermorgen, an dem das Leben unter der betonierten Esplanade des Pariser Westens zu pulsieren begann.
    Pünktlich um 7.58 Uhr tauchte an diesem 8. August ein Zug der Pariser Regionalbahn in das fahle Licht des großen Bahnhofs unter dem Vorplatz des Wohn- und Geschäftsviertels La Défense.
    Die Räder kamen mit einem durchdringenden Knirschen auf den Schienen langsam zum Stehen. Es folgte ein Augenblick der Stille und der Reglosigkeit, dann öffneten sich geräuschvoll die Metalltüren. Hunderte Frauen und Männer, eingehüllt in die Eintönigkeit des Büroalltags, drängten auf den Bahnsteig, eilten zum jeweiligen Ausgang und in eine der dreitausendsechshundert Firmen, die in den hohen Glastürmen des weitläufigen Büroviertels residierten. Die langen Menschenschlangen auf den Rolltreppen erinnerten an Arbeiterameisen, die sich demütig auf den Weg zu ihrem Tageswerk machen.
    Auch in diesem Jahr herrschte eine Gluthitze, und die vielen Klimaanlagen hatten Mühe, sie zu lindern. Für die meisten gewissenhaften Arbeitnehmer waren Anzug oder Kostüm Pflicht. Hie und da sah man, wie jemand sich mit einem weißen Taschentuch die Stirn abtupfte oder sich mit Hilfe eines dieser allerneuesten mobilen Miniventilatoren Kühle zufächelte.
    Die Reihen kleiner Zinnsoldaten kamen auf die endlose Esplanade im flimmernden Dunst der sengenden Sonne und teilten sich wie die verzweigten Arme eines großen Flusses auf die Spiegeltüren zu.
    Punkt 8 Uhr ertönten die Glocken der Kirche Notre-Dame de Pentecôte, die zwischen den Glastürmen fast verschwand, über den Vorplatz. Wie jeden Morgen hörte man auf beiden Seiten der Esplanade acht lange Schläge.
    Im selben Augenblick strandete der Strom der zur Arbeit eilenden Angestellten in der riesigen Eingangshalle des SEAM-Turms auf der Place de la Coupole. Mit seinen 188 Metern, die sich in den makellosen Sommerhimmel erhoben, war der SEAM-Turm eines der vier höchsten Gebäude in La Défense und ein stolzes Symbol des wirtschaftlichen Erfolgs. Seine Granitfassade und die dunklen Fenster verliehen ihm das bedrohliche Aussehen eines zeitlosen Monolithen. Die Menschen, die das Gebäude betraten, schienen nichts als disziplinierte Auswüchse des Ganzen zu sein, kleine Felsstaubpartikel. Der SEAM-Turm trotzte mit dem Hochmut eines jugendlichen Helden dem Pariser Himmel. Langsam erfüllten die Geräusche des Morgens das Erdgeschoss. Die sechs Sicherheitsdrehschleusen an der Vorderseite ließen den endlosen Strom der Arbeitnehmer nur stockend ins Innere des Gebäudes fließen. Behutsam führten die Menschen ihre Magnetkarten ein, bevor sie die Drehkreuze aus Metall passierten. Das Stimmengewirr der Menge vermischte sich mit dem Summen der Klimaanlage und dem Geräusch der Aufzüge, stieg zur Decke der Empfangshalle empor und endete in einer ohrenbetäubenden Kakophonie.
    Die tägliche Routine setzte ein. Im Augenblick ohne jede Überraschung.
    Man sah die gewohnten Gesichter. Laurent Huard, zweiunddreißig, mittleres Management, rasierter Schädel und selbstsicherer Schritt. Um 8.03 Uhr betrat er durch eine der großen Glastüren die moderne Zitadelle. Heute war er ausnahmsweise zu früh dran, aber sein Chef merkte sich nur die Male, die er zu spät kam. An jenem Tag sollte eine höchst wichtige Sitzung mit Kunden seiner Gesellschaft stattfinden. Laurent Huard hatte außerdem die ganze Nacht kein Auge zugetan und sich am frühen Morgen eine Entspannungsmaske aufgetragen, von deren Wirksamkeit er jedoch nicht ganz überzeugt war. Aber er musste mit allen Waffen kämpfen. Er hatte seine Freundin zum Abschied geküsst, als sie noch im Tiefschlaf lag, und seinen besten Anzug angezogen, den er sich in einer kleinen Vorortschneiderei auf Maß hatte anfertigen lassen. Während er mit den Händen in den Taschen wartete, dass endlich einer der Aufzüge hielt, die alle 44 Stockwerke hinauffuhren, übte er jenes gezwungene Lächeln, das er bei solchen Treffen aufzusetzen pflegte.
    Hinter ihm steckten zwei Frauen im Kostüm die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise. Stéphanie Dollon, eine alleinstehende schüchterne Pariserin, und Anuschka Marek, Tochter eines tschechischen Einwanderers. In ihren dunklen Kostümen sahen sie aus wie zwei englische Schulmädchen. Jeden Morgen kamen die beiden Freundinnen, die
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