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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom
Autoren: Henri Loevenbruck
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Medikament. Ich weiß nicht genau, welches. Es ist mir auch egal. Ich trinke das Wasser und schlucke das Medikament.
    Dann höre ich plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. Ein dumpfes Murmeln.
    Mach dir keine Sorgen, Vigo, sie wird dich anrufen.
    Justine streicht mir über den Kopf. Sie lächelt mich an, dann zieht sie sich diskret zurück, wie ein Traum.
    Die Tür schließt sich wieder. Die Zeit scheint stillzustehen, zu schweigen. Und kurz danach läutet das Telefon wieder.
    Das Blut pocht in meinen Adern.
    Ich blicke langsam zu dem Nachttischchen. Das Klingeln erfüllt den ganzen Raum. Droht aufzuhören, wie das letzte Biep eines Kardiographen.
    Meine Hand verkrampft sich, zerknittert die Bettdecke. Dann bewegt sie sich nach oben, streckt sich und kämpft. Sie sucht den Weg. Meine Finger zittern, gehorchen nicht, und dann habe ich vielleicht keine Lust mehr, den Hörer abzunehmen. Louvel? Lucie? Man hat ihnen sicher gesagt, dass ich endlich aufgewacht bin. Aber ich erwarte nichts mehr. Ich möchte nur noch schlafen. Mich von der Sorglosigkeit des Schlafs wiegen lassen. Vielleicht mehr.
    Und das Klingeln geht weiter, beunruhigt mich, beherrscht mich. Eine Schranke fällt. Eine Berliner Mauer. Ich strecke die Hand aus und hebe ab.
    »Hallo.«
    Niemand antwortet.
    Aber ich weiß. Dieses Schweigen. Ich kenne es bereits. Es ist die Hand einer Mutter auf dem Kopf eines schlafenden Kindes. Dieser Atem, das Herz, das ihn hervorbringt. Dieses Herz hätte mir gehören können.
    Schließlich verschwindet die Welt um mich herum. Die Erinnerungen, das Bedauern, das Zögern. Es bleibt nichts, nur noch diese Stimme, auf die ich warte.
    »Ich bin's«, sagt sie endlich.
    Ich spüre eine Träne auf meiner Wange. Mein Hals verkrampft sich. Ich würde gern reden, aber es fehlt mir der Atem. Ich bringe nur ein Schluchzen hervor.
    »Deine Freunde haben mich angerufen. Ich bin … auf dem Laufenden.«
    Wieder Schweigen. Die Sekunden ballen sich, und mir fehlen die Worte.
    »Du hast es also bis zum Ende durchgezogen. Du hast also … Erfolg gehabt. Wie fühlst du dich?«
    »Allein.«
    Das Schluchzen, das ich höre, gehört nicht mehr zu mir. Agnès weint bitterlich.
    »Du fehlst mir«, flüstere ich.
    »Du mir auch.«
    Ich schließe mit Gewalt die Augen, ich will diesen Augenblick festhalten, für alle Zeiten.
    »Glaubst du …«
    Sie stottert, ringt nach Worten.
    »Glaubst du, wir sollten …«
    »Ja.«
    »Du hast mir … so sehr gefehlt, Vigo.«
    Ich öffne die Augen und blicke zur makellos weißen Decke hoch, einem jungfräulichen endlosen Horizont.
    »Ich heiße nicht Vigo.«
    Ich errate das Lächeln auf ihrem Gesicht, inmitten von Tränen. Den salzigen Geschmack auf ihren Lippen.
    »Das stimmt«, sagt sie ganz leise. »Wie soll ich dich dann nennen?«
    Ich zögere und suche. Und dann finde ich ganz tief in meinem Gedächtnis die Antwort.
    »Gibt es einen arabischen Vornamen, der ›Hoffnung‹ bedeutet?«
    »Ähm, ja, ich glaube Amel.«
    Ich lächle. Amel gefällt mir, passt zu mir.
    »Ich heiße jetzt Amel«, sage ich endlich mit klarer Stimme. »Du kannst mich Amel nennen.«
    Sie lacht glockenhell.
    »Aber das ist idiotisch, du bist doch kein Araber.«
    Ich senke leicht den Kopf in meiner weißen Halskrause. Der Vollmond erhellt das ganze Zimmer mit seinem fahlen Licht, und der Fernsehschirm strahlt bläuliche Blitze aus. Mein Herz hebt sich. Ich atme. Dann betrachte ich links im Spiegel mein Gesicht.
    »Ich bin nichts. Ich bin niemand, und ich bin vielleicht alle. Ich bin derjenige, der ich beschließen werde zu sein.«
    Ich höre, wie sie kichert.
    »Amel, du bist verrückt.«
    »Ich bin verrückt, aber ich bin nicht schizophren!«
    »Ich weiß. Und … Ich … Du hast viel Mut. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, wie du durchgehalten hast.«
    »Nun, Agnès, ich habe mir gesagt … Ich habe mir gesagt: Die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Kopernikus hatte recht.«
    Sie lacht wieder.
    »Ruh dich jetzt aus. Ich besuche dich morgen.«
    Sie legt auf.
    Ich spüre plötzlich einen Frieden, wie ich ihn wohl noch nie empfunden habe.
    Ich hebe den Blick und schaue auf den Fernseher.
    Dann halte ich mein Handgelenk vors Gesicht, und mit einer sicheren Bewegung stelle ich auf meiner Hamilton die richtige Zeit ein.
    Es ist 20.05 Uhr. Mir geht es gut.

Danksagung
    Ich habe Das Kopernikus-Syndrom in der köstlich beunruhigenden Stille meines Pariser Kellergewölbes geschrieben, mit kurzen Aufenthalten in
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