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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom
Autoren: Henri Loevenbruck
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Wänden. Den durchsichtigen Infusionsbeutel, der mir tropfenweise wieder Leben spendet.
    Und die Zeit verstreicht weiter, und die Stille.
    Ich bewege einen Zeh. Eine Hand. Ich spüre, wie das Blut durch meine Adern fließt.
    Später am Abend, als das Licht hinter einer Öffnung in meinem Augenwinkel verschwunden ist, ertönt ein Klingelzeichen, und ich bekomme Herzklopfen.
    Mühsam neige ich den Kopf ein wenig. Auf einem Tischchen neben meinem Bett sehe ich ein weißes Telefon. Das Klingeln hört nicht auf. Ich atme tief durch, beiße auf die Zähne und greife nach dem Nachttisch. Meine Finger erstarren, mein Arm zittert. Das Klingeln hört nicht auf. Ich beuge mich weiter vor und bemühe mich nach Kräften, den Hörer abzuheben.
    Dann habe ich es geschafft.
    »Hallo?«
    Es ist eine Männerstimme. Ich stoße einen Seufzer aus. Die kleine Glühbirne in meinem Kopf erlischt.
    »Monsieur Ravel?«
    Ich schlucke schwer. Habe ich Lust, mit irgendjemandem zu sprechen? Irgendeinem anderen?
    »Ja.«
    Ich erkenne meine eigene Stimme nicht, sie klingt so kehlig, so hilflos.
    »Guten Tag, Monsieur Ravel. Hier spricht Blenod, Sie erinnern sich, der Anwalt.«
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Information löst sich in meinem langsam arbeitenden Gehirn auf. Blenod. Ich kann es kaum glauben, verstehen.
    »Haben Sie die Nachrichten angeschaut?«
    Ich weiß nicht, ob ich ihm folgen kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob diese Unterhaltung überhaupt stattfindet. Vielleicht träume ich. Sicherlich hat man mir Beruhigungsmittel gegeben. Mein Gehirn denkt sich bestimmt Geschichten aus, die keinen Sinn haben, und dann zweifle ich. Ich nehme den Hörer und betrachte ihn. Dann halte ich ihn mir wieder ans Ohr, verwirrt. »Nein …«
    »Mein Mandant Gérard Reynald wurde für schuldig befunden. Die Psychiater haben erklärt, dass er trotz seines Zustands voll zurechnungsfähig für seine Taten ist. Er wurde zu lebenslänglich verurteilt, was bedeutet, dass er fünfundzwanzig Jahre im Gefängnis bleiben muss. Er hat mich gebeten, Sie anzurufen. Da ich trotz Ihres Fausthiebs neulich nicht nachtragend bin, soll ich Ihnen in seinem Namen danken.«
    »Mir danken?«
    »Ja. Vigo, sehen Sie sich die Nachrichten an, dann werden Sie verstehen. Das Protokoll 88 ist in allen Zeitungen auf der Titelseite. Es gab jede Menge Festnahmen. Heute Morgen war Farkas dran, die anderen folgen.«
    »Ich verstehe … ich … ich danke Ihnen.«
    »Keine Ursache. Ich halte mich nur an mein Wort. Und noch etwas. Sie werden einen Anwalt brauchen, vielleicht sehen wir uns wieder. Inzwischen wünsche ich Ihnen gute Besserung.«
    Er legt auf. Völlig verblüfft presse ich immer noch den Hörer ans Ohr.
    Ich weiß nicht, soll ich lachen oder weinen. Lachen deshalb, weil Lucie und Damien uns offensichtlich gerächt haben, was einfach großartig ist. Köstlich. Aber auch Weinen. Weinen um Reynald, um mich, noch keine Männer von morgen, sondern von gestern. Für immer Waisen, hilflos, wirr, für immer unangepasst, das Hirn verletzt, ihre Menschlichkeit verletzt. Transkranielle für immer, Knospen, die nie erblühen können.
    Ich schließe die Augen. Weder lache noch weine ich. Und ich suche den Schlaf, der sich nicht einstellen will.
    Die Minuten verstreichen, lang, mühsam, und die Nacht lehnt mich ab. Ich öffne nochmals die Lider und werfe einen Blick auf meine Uhr. Meine alte Hamilton. Die vier roten Ziffern blinken immer noch. 88:88. Ich stoße einen Seufzer aus.
    Ich liege wieder ausgestreckt auf einem Bett, genauso hilflos wie in jenem anonymen Hotel, und bin immer noch auf die Zeit konzentriert, die es nicht gibt. 88:88. Die träge Zeitlosigkeit, in die mich das Attentat versetzt hat.
    Ich zögere.
    Es liegt nur an mir.
    Ich schaue erneut auf meine Uhr, errate die blutigen Formen, die sie in Abständen auf mein mitgenommenes Gesicht projiziert.
    Meine Lust gleitet dahin. Sie tanzt Tango mit vier roten Ziffern.
    Soll ich sie wieder auf die richtige Zeit einstellen? Mich dazu entschließen und wieder ein Jetzt schaffen? Ihn vergessen, ich werden? Mich reinkarnieren?
    Oder soll ich sie für immer blinken lassen, mich ad vitam aeternam vom Zeitdiktat, Sekunden, Stunden, Jahren befreien? Und darauf warten, bis die Batterien aufgebraucht sind. Die Freiheit.
    Plötzlich zucke ich zusammen.
    Die Tür geht auf. Ich drehe mühsam den Kopf.
    Es ist Justine, die Krankenschwester. Ich höre das Klacken ihrer Schritte. Sie bringt mir ein Glas Wasser und ein
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