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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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1. Teil
1.
    Frank Golombek lag bäuchlings auf einem Strohschober und hielt den Feldstecher auf den etwa zweihundert Meter entfernten Kontrollturm gerichtet. Das Stahlgerüst in seinem Fadenkreuz erinnerte ihn an den Hochsitz im Jagdrevier des Großvaters, zumal auch jetzt die Zeit der Äsung war, fünf Uhr am Morgen. Er dachte daran, wie er damals, eingeschmiegt in die Lodenjacke des alten Mannes, das Wild beobachtet hatte. Ganz deutlich kam ihm das gut vierzig Jahre alte Bild vor Augen: Der Nebel auf den tiefliegenden Wiesen und die aus dem wattigen Weiß herausragenden Köpfe der Rehe. Es hatte ausgesehen, als badeten die Tiere in Milch. Sogar seine Nase erinnerte sich. In dem schweren olivgrünen Stoff der Jacke hatte immer ein ganz eigentümlicher Geruch gesteckt, ein bißchen Stalldunst, ein bißchen Tabakrauch und dazu der ätzende Duft von Mottenkugeln, eine scheußliche Mixtur, die der Zehnjährige aber bereitwillig auf sich genommen hatte, weil es eine so große Sache war, hoch oben neben dem Großvater zu sitzen und die im Nebel stehenden Rehe zu zählen.
    Er legte das Glas auf die schwarze Folie, die das Stroh schützte, wischte die Erinnerung weg, sah wieder hinüber zu dem etwa sieben Meter hohen Turm, den er nun, mit bloßem Auge, kaum noch von den ringsum aufragenden Bäumen unterscheiden konnte. Er wußte, daß Männer auf der stählernen Plattform standen, die nicht Ausschau hielten nach Tieren, sondern nach Menschen, und die strikten Schießbefehl hatten.
    Erneut nahm er den Feldstecher auf, schwenkte ihn ganz langsam herum, ließ den Blick wandern, vom Turm weg auf den daneben befindlichen Maschendrahtzaun, dessen obere, aus einem Stachelgeflecht bestehende Kante nach außen gebogen war. Und dieser Umstand, daß die Neigung außen bestand und nicht innen, hätte ihm, wäre es seine erste Inspektion gewesen, sicher verraten, worum es bei der Barriere ging: Es kam nicht darauf an, Menschen am Hinauskommen zu hindern, sondern am Eindringen. Doch das wußte er längst, wie er überhaupt eine ganze Menge wußte über das vor ihm liegende, mit Wald, Buschwerk und zahlreichen Gebäuden bestandene Areal, von dem selbst die Rehe sich fernhielten.
    So war ihm bekannt, daß es außer dem Turm, der nur einer von vielen war, und dem drei Meter hohen Zaun noch einiges mehr gab, das ein Eindringen verhindern sollte, zum Beispiel im Boden vergrabene Sensoren, die jede Erschütterung des Untergrundes, ob nun von Füßen oder von Fahrzeugen hervorgerufen, festhielten und damit die Männer in der Wachzentrale alarmierten. Und auch, daß ein aus der Luft kommender Eindringling durch Raketenbeschuß abgewehrt werden konnte, wußte Frank Golombek. Ja, er kannte sich aus, soweit das möglich war bei einem Objekt, das zu den top-secrets der NATO gehörte und über dessen Existenz die deutsche Bundesregierung sich in Schweigen hüllte.
    Der Diemen, auf dem er lag, war nicht der einzige Platz, von dem aus er dann und wann das Camp der Amerikaner in Augenschein nahm. Auf jedem seiner Felder lag mindestens eines dieser Strohbündel, und eigentlich hätte es in die Scheune gehört, aber er wollte das ganze Jahr über die Möglichkeit haben, seine Beobachtungen von erhöhtem Standort aus vorzunehmen. Meistens allerdings geschah das von seinem Haus aus, denn es stand keine hundert Meter vom Zaun entfernt. Er legte Wert darauf, das verhaßte Objekt von allen Seiten unter Kontrolle zu halten, und dazu boten seine rund um das Depot liegenden Ländereien genügend Möglichkeiten, die er vorwiegend in den ersten Morgenstunden nutzte. Er war Frühaufsteher, lebte überhaupt einen sportlichen Stil. Das hing mit seinem Beruf zusammen. Als Inhaber eines Gestüts saß er jeden Tag im Sattel. Sein schmales Gesicht war wettergebräunt, sein Körper schlank und beweglich. Man sah ihm nicht an, daß er schon dreiundfünfzig Jahre alt war.
    Er schwenkte das Fernglas ein kleines Stück weiter, blickte auf den Eingang des Reservats. Links und rechts neben der Einfahrt stand je ein Turm. Dazwischen versperrte ein Schlagbaum die Straße. Vor dem Schlagbaum ging, mit geschulterter MP, ein Posten auf und ab. Ein weiterer, ebenfalls bewaffneter Mann mußte vor dem Schilderhäuschen stehen; ihn sah er jetzt nicht, aber er wußte von dieser zusätzlichen Wache, weil er schon zweimal bis an den Schlagbaum vorgedrungen war, nicht heimlich, sondern während einer vom Gemeinderat durchgeführten Begehung. Bei der Gelegenheit hatte er auch gesehen, daß
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