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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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auf Postkartenformat gebracht worden, zeigte jedoch nur den Kopf.
Der Vater griff über den Tisch, strich seiner Tochter durchs Haar. »Mit Sicherheit hat er sein Examen bestanden und ist jetzt ein frischgebackener Referendar. Du weißt doch: Wenn es mal etwas länger dauert mit der Post von drüben, liegt es an den Unruhen, die das Land seit Jahren durchmacht.«
Sie nickte. »Hast wahrscheinlich recht, aber die Ungeduld kriegt man auch mit den stichhaltigsten Erklärungen nicht weg. Ich wachte heute früh um vier auf, und dann stellte ich mir vor, wie er von seinen Prüfern mit Fragen bombardiert wird. Bei mir war es ja nicht so. Erstens hatte ich davor kaum etwas anderes gemacht als gelesen und gelernt, und zweitens: Wer läßt schon eine wie mich durchfallen!«
»Kind, er hat es bestimmt geschafft. Du darfst ihn gern anrufen. Aber denk an den Zeitunterschied. Drüben ist es jetzt Mitternacht.«
»Danke, Vater. Anrufen lieber doch nicht. Du weißt, wir haben es einmal gemacht, und das war für mich fast so, als hätte ich vor ihm gestanden. Das ist das Schöne an den Briefen: Sie verbinden uns, und zugleich geben sie mir den Schutz, den ich nun mal brauche.«
»Beim Telefonieren würde er dich zwar auch nicht sehen, aber ich versteh’ dich schon.«
Sie stand auf. »Ich reite jetzt aus. Wenn ich zurück bin, ist ja vielleicht ein Brief aus Chile da.«

2.
    Sie hieß Zayma und war innerhalb der Gruppe schon fast eine Kultfigur. Sah ein Mann sie zum erstenmal, so dachte er an die Märchen aus »Tausendundeiner Nacht« und träumte davon, wenn auch nicht gleich die ganzen tausend, so doch wenigstens die eine einzelne mit ihr zu verbringen. Doch keinem der fünf Männer der VITANOVA war es bislang vergönnt gewesen, auch nur einen Flirt mit ihr zu haben. Sie war sehr wählerisch, hielt alle auf Distanz. Ihr letztes intimes Erlebnis hatte sie vor sechs Wochen in Stockholm gehabt, als die Gruppe den neuen Auftrag entgegennahm.
    Sie war vierundzwanzig Jahre alt und hatte schwarzes Haar, dunkelbraune Augen und einen für eine Nordafrikanerin ungewöhnlich hellen Teint. Trotz ihrer kleinen und zierlichen Gestalt wirkte sie nicht zerbrechlich, im Gegenteil, die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen ließ sie stark und sicher erscheinen, grad so, wie ein Raubtier grazil und dennoch seinen Gegnern überlegen sein kann. Hilario, der Südamerikaner in der Gruppe, hatte ihr den Namen La Pantera gegeben, die Pantherin.
    Sie war eine Kabylin mit französischem Einschlag und stammte aus der Cyrenaika. In der Organisation raunte man, sie sei vom Vater her eine direkte Nachfahrin des sagenhaften Berberfürsten Abd-el-Kader. Sie hatte das nie bestätigt, nur eines Abends ihren Gefährten eine Geschichte erzählt, die dazu angetan war, dem Geraune Nahrung zu geben. Nach einem gelungenen Waffenraub aus einer Bundeswehrkaserne hatte sie den um sie versammelten Männern und Frauen den Verlauf der legendären, vor über hundert Jahren bei Constantine geschlagenen Berberschlacht so detailliert und anschaulich beschrieben, als wäre sie dabeigewesen. Mit gekreuzten Beinen hatte sie auf dem Fußboden gesessen und durch Worte, Gesten und Blicke die Zuhörer in ihren Bann gezogen. Sie hatte jede Gelegenheit genutzt, das Gemetzel in seiner ganzen Grausamkeit auszumalen. Vor allem war es ihr darauf angekommen, die blutrünstigen Berberfrauen des Marabuts Bou Ziane zu schildern, die den herannahenden Feinden, so sie ihrer nur habhaft werden konnten, den Garaus machten: Sie zogen die Männer nackt aus, fesselten sie und stachen mit Messern auf sie ein, töteten sie aber zunächst nicht, um ihnen die mörderischen Qualen so lange wie möglich zu erhalten. Zum Schluß schälten sie ihnen – wie es lange davor auch die Azteken mit ihren Opfern getan hatten – die Herzen aus den Leibern. Die brieten sie sich und hielten dann Mahlzeit. Unter Zaymas damaligen Zuhörern war auch ein siebzehnjähriger Deutscher gewesen. Er hatte es nicht fassen können, daß eine so schöne Frau eine so schreckliche Geschichte fast genüßlich zum besten gab, und sein Entsetzen auch offen bekannt. Darauf hatte sie nur geantwortet: »Der Kampf gegen die Ungläubigen kannte keine Einschränkung der Mittel. Die Feinde zu strafen, war Dienst an Allah.«
    An dem Morgen, an dem Frank Golombek von seinem Strohschober aus das US-Depot beobachtet hatte, wollte die junge Libyerin nach Kellbach, und wenn sie eine Stunde früher unterwegs gewesen wäre, hätte sie ihm begegnen können,
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