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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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einer der Türme, die hier nicht aus Metall, sondern aus Beton waren, in ein langgestrecktes zweistökkiges Gebäude überging. Es war das Herzstück der Kontrollanlagen. Hier saßen rund um die Uhr Männer an Telefonen und Monitoren. Sie waren mit den Wachmannschaften verbunden, und bei ihnen gingen auch die Signale der im Vorfeld des Camps vergrabenen Sensoren ein.
    Nein, dachte er, da hinein komme ich nie! Es sei denn, es gelingt mir, Kontakt zum Colonel aufzunehmen, dem das Lager untersteht. Vielleicht sollten wir ihn einfach mal einladen. Ich werde das mit Katharina besprechen. Falls er kommt, wird er über sein geheimes NATO-Nest natürlich nicht viel erzählen, aber möglicherweise hält der Kontakt an, vertieft sich sogar, und in ein paar Wochen nimmt er mich mit bis hinter den Zaun.
    Er schob sein Fernglas ins Etui, kroch zurück, glitt langsam vom Stroh herunter, machte sich auf den Weg. Als er die Landstraße erreicht hatte, stieg er in seinen Jeep und startete.
    Er fuhr sehr langsam. Nach zehn Minuten erreichte er Wasloh, sah auf das kleine gelbe Schild mit dem Ortsnamen und dann auf das große weiße daneben, dessen Text er auswendig kannte: »Willkommen in Wasloh, dem Ort, der Sie wieder jung werden läßt! Bleiben Sie und besuchen Sie unsere Heilquellen! Baden Sie sich gesund in unserem berühmten Thermalwasser! Nähere Informationen, auch über Ihre Hotelunterkunft, erteilt Ihnen unser Fremdenverkehrsamt im Rathaus.«
    Er fuhr durch die Hauptstraße, dachte: Es ist Mitte Mai, aber unsere Gästehäuser sind fast leer! Sein Blick streifte die erst kürzlich erneuerte ockerfarbene Fassade des Hotels »Zur alten Sägemühle«. Ein schönes, gepflegtes Haus, dachte er, aber in seinen Betten liegen nur ein paar Greise. In zwei oder drei Stunden stehen sie auf und beginnen ihr Regenerationsprogramm. Am Nachmittag schleppen sie ihre rheumatischen Knochen durch unsere Straßen, trinken hier einen Schonkaffee, fotografieren dort einen alten Hausgiebel, vorausgesetzt, sie können ihren Fotoapparat noch halten, reden von nichts anderem als von ihren Gebrechen und kippen abends erschöpft in die Betten. Ja, diese Veteranen kommen auch jetzt noch, weil sie entweder von dem nahen US-Depot nichts wissen oder ihre Therapie ihnen wichtiger ist als alles andere. Oder ganz einfach, weil sie sich sagen: Nach uns die Giftflut! Ein echter Gästestamm jedenfalls, wie jeder Kurort ihn braucht, sind sie nicht.
    Er verließ das Städtchen, fuhr an Wiesen und Kornfeldern entlang, die zu seinem Hof gehörten. Es war guter, kraftvoller Boden. Die Gerste stand schon ziemlich hoch, und ihr Anblick ließ ihn erneut an das Gift denken, das Colonel Braden in seinem Depot verwaltete. Noch einmal ging ihm der ganze Zynismus auf, mit dem die Menschen dieser Gegend es zu tun hatten: Immer wieder predigten die Naturschützer, die Politiker und tausend Leute mehr, man solle die Verwendung von Insektiziden nach Möglichkeit einschränken, und nur einen Steinwurf von seinen Feldern entfernt, ganz nah dem idyllischen Wasloh mit seinen elftausend Einwohnern, lagerten, versteckt in unterirdischen Bunkern, riesige Mengen von Kampfstoffen, die nicht für die Vertilgung von Insekten, sondern für die von Menschen vorgesehen waren. Rund ein dutzendmal schon hatten die Wasloher gegen »McRonalds Giftküche«, wie sie das amerikanische Depot nannten, demonstriert, mit Särgen, so als ginge es bereits um die Bestattung der Opfer, mit Spruchbändern und Schildern, die das allen bekannte Symbol zeigten: den Totenkopf über zwei gekreuzten Knochen. Einige der Demonstranten hatten sogar Gasmasken getragen. Doch die Proteste hatten nichts erbracht außer einem Schaden, den die Menschen dieser Region mehr und mehr zu spüren bekamen. Über die Demonstrationen wurde in den Medien berichtet, und die Folge davon war, daß das landschaftlich reizvolle Gebiet, das vor allem wegen seiner noch weitgehend unbeschädigten Waldbestände und seiner zahlreichen Heilquellen für Ferien- und Kuraufenthalte genutzt wurde, in Verruf geriet. Die Gästezahlen gingen drastisch zurück, und innerhalb weniger Jahre mußten nicht weniger als siebzehn Hotelbesitzer Konkurs anmelden. Die Immobilienpreise rutschten auf einen Stand hinab, der es kaum einem Verkäufer erlaubte, sich von dem Erlös irgendwo anders in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen, und so hatten einige der wohlhabenden Wasloher Familien ihre Besitzungen nicht verkauft, sondern nur verlassen in der Hoffnung,
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