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Zwölf tödliche Gaben 10: Zehn springende Herren

Zwölf tödliche Gaben 10: Zehn springende Herren

Titel: Zwölf tödliche Gaben 10: Zehn springende Herren
Autoren: Stuart MacBride
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Zehn springende Herren
    Der Blick von den Zinnen der Burgruine zur Nachtzeit hatte etwas Beruhigendes. Den steilen, dunklen Berghang hinab zum Kings Park und weiter über den angeschwollenen schwarzen Fluss bis Castle View und The Wynd. Straßenlaternen bildeten funkelnde Bänder in der Dunkelheit, wie ein mit Tautropfen gesprenkeltes Spinnennetz.
    Er hob die Flasche an die Lippen, als die ersten Schneeflocken durch die kalte Nachtluft herabschwebten. Ein 1896er Château de Laubade Armagnac – über tausend Pfund die Flasche –, und er soff ihn aus der Flasche wie ein Wermutbruder. Eine sanfte Wärme breitete sich in seinem Brustkorb aus. Schützte ihn vor der Kälte. Betäubte den Schmerz in seinem gebrochenen Finger. Und gab ihm den Mut, zu tun, was getan werden musste.
    Noch ein Schluck, und er starrte in die Schwärze vor seinen Augen. Hier war die Felswand am steilsten. Die ideale Stelle zum Springen. Sobald er seinen Armagnac ausgetrunken hatte – es wäre eine Schande, etwas so Vollkommenes verderben zu lassen. Wenn er fertig war – dann würde er es tun.
    »… aber vor allem möchte ich unserem verehrten Gast danken, dass er sich trotz seines vollen Terminkalenders die Zeit genommen hat, heute zu uns zu kommen, um unsere neuen Büroräume zu eröffnen.« Der dicke Mann tritt zurück und eröffnet den Applaus.
    Es ist ein gesichtsloses Industriegebäude, nicht zu unterscheiden von all den anderen gesichtslosen Industriegebäuden im Gewerbegebiet Shortstaine. Ohne das blaue Plastikschild über dem Eingang – SCOTIABRAND TASTY CHICKENS LTD. – DAS SCHMECKT HUHN-TASTISCH!   – würde man es glatt übersehen. Aber morgen wird es einen großen Artikel im Lokalblättchen geben, in dem von »Schaffung von Arbeitsplätzen« und »regionalem Wirtschaftswachstum« schwadroniert wird, geschmückt mit einem Foto des allseits beliebten Parlamentsabgeordneten, des weißhaarigen, leutseligen Lord Peter Forsyth-Leven.
    Peter lächelt und hebt die Hand. Er wartet, bis das Klatschen verebbt, ehe er zu seiner »Es-ist-mir-ein-großes-Vergnügen/Herausforderungen-von-morgen/vorwärts-Schottland«-Rede ansetzt. Es ist die gleiche Rede, die er bei jeder dieser langweiligen kleinen offiziellen Veranstaltungen abspult. Büroräume eröffnen, Parkbänke widmen, Bäume pflanzen und so weiter und so fort – immer wollen sie ihn dabeihaben. Aber so ist das nun mal, wenn man Abgeordneter im Schottischen Parlament für Oldcastle South ist und zudem ein waschechter Lord. Sechzig Jahre noblesse oblige.
    Er endet mit einem Witz über zwei alte Damen aus Castle Hill und den magischen Sack des Weihnachtsmanns. Dann enthüllt er die winzige blaue Plakette, die diesen stolzen Moment für ScotiaBrand Tasty Chickens Ltd. festhält.
    Kameras blitzen, Hände werden geschüttelt, alles lächelt, und dann kann er endlich entfliehen.
    Er kehrt dem tristen kleinen Industriebau den Rücken und marschiert hinüber zu seinem Bentley, wobei er im Gehen schon einmal die Zentralverriegelung öffnet. Andere Leute in seiner Position brauchen einen Chauffeur und ein Heer von Bediensteten, ehe sie sich an so etwas wie die Eröffnung eines Geflügelschlachthofs heranwagen, aber er ist da anders. Er kann gut mit Menschen umgehen und ist überhaupt nicht abgehoben, so steht es in allen Zeitungen.
    Da wartet ein Mann auf ihn. Er lehnt in der Nähe des Wagens am Zaun, hat die Hände in den Hosentaschen und lächelt.
    Peters Mutter hat ihm immer gesagt, ein Blick auf die Schuhe sagt dir alles über einen Mann, was du wissen musst. Der hier trägt Brogues aus schwarzem Leder, einen langen schwarzen Mantel, einen gut geschnittenen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und eine scharlachrote Krawatte. Ein Geschäftsmann. Wahrscheinlich mit einer Einladung zu noch so einer verdammten Eröffnung.
    »Mr Forsyth-Leven?« Der Mann lächelt und streckt die Hand aus.
    Mister? Eine Unverschämtheit – er ist ein Lord.
    Peter schaltet ebenfalls sein Lächeln ein. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Er öffnet schon mal die Autotür, nur um dem Mann zu demonstrieren, dass er viel zu tun hat, dass wichtige Leute und schwierige Entscheidungen auf ihn warten.
    »Wohl eher umgekehrt. Ich möchte mit Ihnen über eine einmalige Anlagemöglichkeit sprechen.«
    Geht das schon wieder los …
    »Nun, das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr …?« Er hört keinen Namen. Manche Leute haben einfach keine Manieren. »Aber ich fürchte, darüber werden Sie mit meinem Büro sprechen
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