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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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in nicht allzu ferner Zeit werde das Giftlager geräumt und man könne zurückkehren. Immerhin wurde seit langem über die Abschaffung von Chemie-Waffen debattiert.
    Er erreichte die Einfahrt, fuhr auf dem planierten Weg an der Langen Wand der Reitbahn entlang, hielt vor den Stallungen, stieg aus. Er winkte den beiden jungen Männern zu, die die erste Fütterung besorgten, und ging dann ins Haus.
    Er war überrascht, zu so früher Stunde Marianne anzutreffen. Sie saß am Küchentisch, trank Kaffee. Er beugte sich über sie, küßte ihr die Stirn. »Schon aufgestanden?«
    »Ja, Vater. Ich konnte nicht schlafen. Und du? Warst du mal wieder auf einem deiner Strohdiemen?«
»Ja, das Übliche: Hinfahren, Sehen, Nichtsmachenkönnen, Bösewerden, Wiedernachhausefahren. Ist auch ein Kaffee für mich da?«
»Klar. Setz dich!«
»Ich zieh’ mir nur schnell was anderes an.«
Er verließ die Küche, ging ins Obergeschoß, verhielt sich leise, um seine Frau nicht zu wecken. Während er sich umzog, dachte er an Marianne, die sicher mal wieder – ähnlich wie er selbst – von Unruhe und Angst aus dem Bett getrieben worden war. Sie hatte ihr eigenes Problem. Sechsundzwanzig Jahre war sie jetzt alt, und sechsundzwanzig Jahre alt war auch das deprimierende Bild, das sie ihren Eltern, ihrer Umwelt, vor allem aber sich selber bot. Ein »Horrorbild«. Dieses Wort hatte er, der Vater, nach ihrer Geburt aus sich herausgeschrien. Zwar hatten die Ärzte Katharina und ihn gründlich darauf vorbereitet, aber eben nur mit Worten, und die hatten nicht ausgereicht, ihm und seiner Frau eine Vorstellung zu geben von dem, was sie erwartete. Er hatte sich abgewendet von der hundertfünfzig Jahre alten Bauernwiege, in der schon viele Golombeks gelegen hatten, Jungen und Mädchen, blonde und dunkelhaarige und auf jeden Fall immer ganz normal aussehende Babys. An jenem 4. Dezember des Jahres 1961, als er seine Tochter zum erstenmal sah, hatte er für die großen dunklen Augen und das dunkelblonde, seidig schimmernde Haar zunächst keinen Blick. Er kehrte sich gleich wieder ab, schrie das fürchterliche Wort vom »Horrorbild« aus sich heraus und hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben.
Dem kleinen Mädchen fehlten beide Arme. Dort, wo sie hätten sein sollen und auch zu finden gewesen wären, wenn nicht irgendwelche Chemiker mit Thalidomid experimentiert und daraus das Contergan entwickelt hätten, saßen – wie Seehundsflossen – die beiden Fragmente. Die Hände waren da, jede mit fünf Fingern, aber sie waren aus den Schultern herausgewachsen. Als er sich dann zum zweitenmal der Wiege näherte und auf sein Kind sah, begriff er nicht, daß es ganz friedlich dalag, mit offenen Augen. Es wollte ihm nicht in den Schädel, daß ein Menschenkind so betrogen auf die Welt gekommen war und nicht sofort mit allem, was es an Stimme nur haben mochte, protestierte, sondern ergeben in seinen Kissen ruhte. Und obwohl es selten geschieht, daß wenige Stunden alte Säuglinge lächeln, sah er sein Kind lächeln, und in diesem Augenblick war die Liebe da.
Ja, das war der 4. Dezember des Jahres 1961 gewesen, und nun, sechsundzwanzig Jahre später, saß unten in der Küche eine schöne junge Frau, die ihr Abitur gemacht hatte und nach einer gründlichen Ausbildung vier Fremdsprachen nahezu perfekt beherrschte. Und was links und rechts aus ihren Ärmellöchern herausguckte, waren für ihn keine monströsen Seehundsflossen, nein, er nannte sie Engelsflügel.
Als er wieder zu Marianne trat, hatte sie ihm den Kaffee schon eingeschenkt. Daß sie die Kanne ergreifen, sie ruhig halten und den Kaffee in eine Tasse gießen und noch vieles, vieles mehr konnte, war in der Familie längst kein Gesprächsthema mehr. Sie konnte es. Punktum.
»Warum hast du so schlecht geschlafen?« fragte er.
»Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich auf eine Nachricht von Alejandro warte. Ich möchte endlich wissen, ob er sein Examen bestanden hat.«
Der junge Chilene Alejandro war Mariannes Brieffreund und wohl auch etwas mehr. Alle vierzehn Tage lag ein blaßblauer Umschlag mit dem Aufdruck Correo Aereo und den turbulenten Schriftzügen im Briefkasten. Schon seit anderthalb Jahren korrespondierten die beiden miteinander. Sie hatten sich nie gesehen, aber jeder besaß das Foto des anderen. Alejandros Bild stand auf Mariannes Schreibtisch. Eine Aufnahme im Freien. Der junge Mann unter den Palmen vor der Universidad Catôlica von Valparaiso. Sie dagegen hatte ihm ein Paßbild geschickt. Es war zwar
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