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Nebra

Nebra

Titel: Nebra
Autoren: Thomas Thiemeyer
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die beste Kombination für eine Mutprobe. Nun ja, manche Fehler machte man nur einmal im Leben. Etwa fünfzig Meter weit waren sie in die Höhle eingedrungen, ehe sie das Ende erreicht hatten. Die Blonde hatte zum Aufbruch gedrängt. Was, wenn der Bus ohne sie losfahren würde? Die werden schon auf uns warten, hatte er erwidert, während er dem anderen Mädchen - dem mit den schwarzen Haaren - aufmunternde Blicke zugeworfen hatte. Wenn wir uns beeilen, haben wir sie eingeholt, noch ehe sie unsere Abwesenheit bemerken. Zum krönenden Abschluss und zum Beweis seiner Unerschrockenheit hatte er seine Taschenlampe ausgemacht. Er erinnerte sich, wie vollkommene Dunkelheit sie einhüllte - eine so allumfassende Dunkelheit, dass sie buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnten. Und dann hatte die Schwarzhaarige seine Finger berührt. Lächelnd hatte er sie zu sich herangezogen und sie geküsst. Und sie hatte seinen Kuss erwidert. Ein schöner Zustand, den er gern länger ausgekostet hätte. Doch in diesem Moment war ihm ein schmaler Lichtstreifen aufgefallen, der aus einer Öffnung knapp über dem Boden schimmerte. Er hatte seine Taschenlampe wieder eingeschaltet und tatsächlich, da war ein Spalt, gerade breit genug, dass man sich auf dem Bauch liegend hindurchzwängen konnte. Lass uns nachsehen, hatte er vorgeschlagen. Wo mag wohl das Licht herkommen? Nur noch ein kurzer Blick, dann gehen wir zurück. Die anderen hatten zugestimmt. Hätten sie ihn doch zurückgehalten. Der Spalt war verdammt eng. Sie waren weitergekrochen, bis sich die Decke so weit hob, dass sie auf allen vieren weiterrobben konnten. Dann endlich hatten sie es geschafft. Ihre krummen Rücken aufrichtend, hatten sie sich umgesehen. Niemals würde er diesen Anblick vergessen. Er erinnerte sich, wie sie mit offenen Mündern dagestanden hatten und nicht fassen konnten, was sie da entdeckt hatten. Es war, als hätten sie Ali Babas Höhle betreten. Stäbe, Schwerter, Kelche, selbst ein schimmernder Wagen war zu sehen gewesen, gezogen von einem goldenen Pferd. Ein Schiff hatte dort gestanden, mit gebogenem Rumpf und goldenen Segeln. Beleuchtet wurde die Höhle von Fackeln, die ihr Licht verschwenderisch auf die unermesslichen Reichtümer ergossen. Und dann dieser riesige Stein. Ein Monolith, in dessen feuchter Schwärze sich das Licht der Flammen auf widernatürliche Art spiegelte. An seinen Seiten befanden sich Vertiefungen, in die wertvoll aussehende Scheiben eingelassen waren. Eine Art Kultstein oder Altar?
    So geblendet waren die Jugendlichen von der Pracht und dem Glanz, dass sie die beiden merkwürdigen schmutzigen Haufen in der Ecke des Raumes gar nicht bemerkt hatten. Bis zu dem Augenblick, als diese sich bewegten ... »Wach auf!«
    Sein Kopf ruckte aus dem Halbschlaf hoch. Wie es schien, pulsierte immer noch genug von dem Schlafmittel durch seine Venen, um damit eine Herde Elefanten zu betäuben. Verwundert blickte er sich um. Der hintere Teil der Höhle hatte sich während seiner Ohnmacht mit Menschen gefüllt. Sie waren in seltsame Kostüme gehüllt. Wie heidnische Priester sahen sie aus, wie Relikte einer längst vergangenen Zeit. Sein Blick blieb an einer halbnackten Frau hängen, die vor die Menge getreten war und langsam zu tanzen begann. Die Haare hochgesteckt und die Augen schwarz geschminkt, sah sie aus wie eine Hexe. Die Menge wiegte sich im Takt der Musik, während der Tanz sich langsam steigerte. Die Bewegungen der Frau hatten eine beinahe hypnotische Wirkung. Der Junge spürte, wie ihm die Augen wieder zufielen.
    »Verdammt, reiß dich zusammen!«, flüsterte das Mädchen. »Untersteh dich, wieder einzuschlafen.« Den Protest seines schlaftrunkenen Körpers ignorierend, schlug er die Augen auf. Diesmal, so schwor er sich, würde er nicht mehr einschlafen.
    »Schau dir das an.« Das Mädchen lenkte seinen Blick auf ihre zusammengebundenen Hände - ihre ehemals zusammengebundenen Hände. Im Schatten des Pfostens sah der Junge einen etwa einen Meterlangen Lederstreifen liegen. Das Mädchen bewegte die Arme, um ihm zu zeigen, dass sie sich befreit hatte. Er runzelte die Stirn. Wie war ihr das nur gelungen? Beim zweiten Hinsehen bemerkte er, wie etwas in ihren Händen aufblitzte.
    Ein Taschenmesser. Er hob den Kopf und nickte. Respekt blitzte in seinen Augen.
    In diesem Moment endete der Tanz der seltsamen Frau. Ein großer hagerer Mann betrat die Höhle. In Tierfelle gehüllt und mit den Hörnern eines Rehbocks auf der Stirn, sah er aus
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