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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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    Den größeren Teil ihres Laufes fließt
die Drina zwischen steilen Bergen durch enge Schluchten oder durch tiefe Täler
mit schroff abfallenden Ufern. Nur an einigen Stellen des Flußlaufes erweitern
sich seine Ufer zu offenen Niederungen und bilden, sei es auf einer, sei es auf
beiden Seiten des Flusses, sonnige und fruchtbare, teils ebene, teils wellige
Flächen, die zur Bestellung und Besiedlung geeignet sind. Eine solche
Erweiterung entsteht auch hier bei Wischegrad, wo die Drina in jähem Sturz aus
der tiefen und engen Klamm hervorbricht, die die Butkower Felsen und die Uzawer
Berge bilden. Die Schleife, die die Drina hier macht, ist ungewöhnlich scharf,
und die Berge auf beiden Seiten sind so steil und nähern sich einander so sehr,
daß sie wie ein geschlossenes Massiv aussehen, aus dem der Fluß hervorquillt
wie aus einer braunen Wand. Aber da öffnen sich die Berge plötzlich zu einem
unregelmäßigen Amphitheater, dessen Durchmesser an der breitesten Stelle nicht
größer ist als etwa fünfzehn Kilometer Luftlinie.
    An dieser Stelle, wo die Drina mit
der ganzen Schwere ihrer grünen und überschäumten Wassermasse aus dem scheinbar
geschlossenen Gefüge der schwarzen und steilen Berge hervorbricht, steht die
große, gleichmäßig geschnittene, steinerne Brücke mit ihren elf weitgespannten
Bögen. Von dieser Brücke aus erstreckt sich fächerförmig, wie von einer
Grundlinie aus, die ganze wellige Niederung mit der Stadt Wischegrad und ihrer
Umgebung, mit ihren in Hügel eingebetteten Weilern, bedeckt mit Äckern,
Weideflächen und Pflaumengärten, durchkreuzt von Feldrainen und Zäunen und
gesprenkelt mit Waldstücken und spärlichen Gruppen von Nadelbäumen. Aus dieser
Blickebene betrachtet,
sieht es aus, als ergösse sich aus den breiten Bögen der weißen Brücke nicht
nur die grüne Drina, sondern auch diese ganze sonnige und gezähmte Fläche mit
allem, was auf ihr ist, und mit dem südlichen Himmel über ihr.
    Am rechten Ufer des Flusses, gleich
hinter der Brücke, liegt der Hauptteil der Stadt mit dem Marktplatz, teils in
der Ebene und teils auf den Abhängen der Hügel am Ufer. Auf der anderen Seite
erstreckt sich längs des linken Ufers das Maluchija-Feld, die zerstreute
Vorstadt zu beiden Seiten der Landstraße, die nach Sarajewo führt. Die beiden
Enden der Landstraße nach Sarajewo bindend, verbindet die Brücke zugleich auch
die Stadt mit ihrer Vorstadt.
    Wenn man sagt »verbindet«, dann ist
das schlechterdings dasselbe, als sagte man: die Sonne geht morgens auf, damit
wir Menschen am Tage sehen und die notwendigen Arbeiten verrichten können, und
sie geht abends unter, damit wir schlafen und von des Tages Mühen ausruhen
können. Denn diese große, steinerne Brücke, dieses wertvolle Bauwerk
einzigartiger Schönheit, wie es nicht einmal viele wohlhabendere und
verkehrsreichere Städte besitzen (»es gibt nur noch zwei solcher im ganzen
Türkischen Reich«, sagte man in alter Zeit), ist der einzige ständige und
sichere Übergang am ganzen mittleren und oberen Lauf der Drina und die
unentbehrliche Spange auf dem Wege, der Bosnien mit Serbien und, über Serbien
hinaus, auch mit den übrigen Teilen des Türkischen Reiches bis nach Stambul
verbindet. Die Stadt und ihre Vorstadt aber sind nur Siedlungen, wie sie sich
unvermeidlich immer an wichtigen Verkehrspunkten und zu beiden Seiten großer
und wichtiger Brücken entwickeln.
    So sind auch hier mit der Zeit die Häuser
ausgeschwärmt und haben sich die Siedlungen an beiden Enden der Brücke
vermehrt. Die Stadt lebte von der Brücke und wuchs aus ihr wie aus ihrer
unzerstörbaren Wurzel.
    Um das Bild der Stadt klar zu sehen
und die Natur ihres Verhältnisses zur Brücke voll zu verstehen, muß man
wissen, daß in der Stadt noch eine Brücke besteht, wie es auch noch einen Fluß
gibt. Das ist der Rsaw und die Holzbrücke über ihn. Unmittelbar am Ende der
Stadt mündet der Rsaw in die Drina, so daß der Mittelpunkt der Stadt und gleichzeitig
ihr Hauptteil auf der sandigen Landzunge zwischen den beiden Flüssen, dem großen
und dem kleinen, liegt, die sich hier vereinigen. Die zerfaserten Stadtränder
erstrecken sich jenseits der Brücken auf dem linken Ufer der Drina und auf dem
rechten Ufer des Rsaw. Eine Stadt am Wasser. Aber wenn es auch noch einen Fluß
und eine Brücke gibt, so bezeichnen doch die Worte »auf der Brücke« niemals die
Brücke über den Rsaw, einen einfachen Holzbau, ohne Schönheit, ohne Geschichte,
ohne anderen Sinn,
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