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Nebra

Nebra

Titel: Nebra
Autoren: Thomas Thiemeyer
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verschrumpelte und schließlich zerfiel. Binnen weniger Sekunden war von der alten Hexe nichts mehr übrig. Es schien, als sei sie nur noch von der Magie am Leben gehalten worden. Ohne die Macht seiner Herrin brach auch der Wächter zusammen. Taumelnd stolperte er einige Schritte, dann fiel sein Körper in den Staub. Seine Kräfte waren mit dem Leben seiner Herrin erloschen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging Hannah zu Cynthia und hockte sich neben sie. Zwar war sie noch am Leben, doch die Wunde in ihrem Unterleib sah schlimm aus. Mit sanfter Hand streichelte die Archäologin über ihre flattern den Augenlider. Hannah kannte sich mit Verletzungen dieser Größenordnung nicht aus, sie spürte aber, dass es verdammt ernst war. In diesem Moment fielen ihr Johns Worte wieder ein. Du musst ein Blutopfer bringen.
    Sie blickte auf den röchelnden, fellbedeckten Wächter. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Wenn der Dämon ein Opfer wollte, sollte er es bekommen.
     
     
72
     
    Cynthia erwachte in einem Meer aus Schmerz. Ihr Bauch brannte, als würde sich jemand mit einem Schneidbrenner daran zu schaffen machen. Sie rollte zur Seite und blickte an sich nach unten. Die Verletzungen sahen erschreckend aus. Die messerscharfen Krallen des Wächters hatten vier sichelförmige Einstiche hinterlassen. Um die Ränder herum hatte sich das Gewebe bläulich verfärbt, und schwarzes Blut quoll aus der Wunde. Sie verfluchte sich innerlich, dass sie so unachtsam gewesen war. Nur einen Moment der Ablenkung, und schon war es geschehen. Der Wächter, wo war der überhaupt? Sie rollte sich auf die andere Seite und versuchte sich zu orientieren. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihr Blick war wie verschleiert. Sie hatte Schwierigkeiten, Dinge zu erkennen, die weiter als zwei Meter entfernt waren, und rieb sich übers Gesicht. War das Hannah? Und was schleifte sie da in Richtung Opferstein? Sah aus wie der Körper des Wolfsmenschen. Aber was wollte sie mit ihm? Sie bemerkte den gekrümmten Dolch, der seitlich am Gürtel der Archäologin steckte, der Opferdolch. Wie kam er in ihren Besitz? Ihr Blick wanderte zwischen dem Opferstein und der sich abmühenden Archäologin hin und her. Der Dolch ... der Stein ... der Wächter. Langsam begann sie zu verstehen. Hannah wollte das Ritual ausführen. Hatte sie etwa vor, den Dämon unter Kontrolle zu bringen? Aber das war doch Wahnsinn.
    Ihr Blick wurde klarer, und sie sah Michael, der von John im Würgegriff gehalten wurde.
    An der Heftigkeit seiner Gegenwehr ließ sich erkennen, was er von Hannahs Plan hielt. Sollte es tatsächlich möglich sein? Doch allein würde Hannah es kaum schaffen. Der Körper des Wächters war verdammt schwer.
    Cynthia richtete sich auf. Der Schmerz ließ sie beinahe ohnmächtig werden, doch sie zwang sich, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Die Hände auf die Wunde gepresst, taumelte sie hinter der Archäologin her.
    Hannahs Gesicht war eine Maske des Erstaunens. »Was tust du?«, rief sie. Augenblicklich ließ sie den Wolfskörper los und eilte zu ihr. »Bist du verrückt geworden? Leg dich sofort wieder hin.«
    Cynthia schüttelte den Kopf. Irgendetwas war mit ihrem linken Ohr. »Der Wächter ... helfen, ihn auf den Altar zu legen.« »Das kommt nicht in Frage. Du musst dich ruhig verhalten. Deine Verletzungen sind lebensgefährlich.« »Sag ... nicht, was ich zu tun habe. Wirst es allein nicht schaffen.« Cynthia schob Hannah beiseite, griff ins Fell des Wesens und schleifte es ein Stück weiter. Die Schmerzen pochten in ihrem Körper. Doch ihr unerschütterlicher Wille zwang sie weiterzumachen. Hannah, die erkannte, dass sie sie mit Worten nicht umstimmen konnte, schüttelte den Kopf und packte mit an.
    Ziehend und stemmend gelang es ihnen, den schweren Körper hochzuhieven. Endlich lag der Wächter auf dem Stein. Cynthia war am Ende ihrer Kräfte. Diese Anstrengung war zu viel für sie gewesen. Am Fuße des Felsblocks brach sie zusammen. Trotz der enormen Hitze spürte sie, wie die Kälte ihre Beine emporkroch. Ihre Füße waren bereits so taub, dass sie sie kaum noch spürte. Wenn das der Tod war, dann sollte es eben so sein. Umso eher würde sie wieder in Karls Armen liegen. Mit einem gequälten Lächeln blickte sie hoch zu Hannah. »Mach schon«, sagte sie. »Bring die Sache zu Ende.«
    Hannah wusste, dass Cynthia recht hatte. Jetzt oder nie. Mit grimmigem Gesichtsausdruck setzte sie die Opferklinge unterhalb des linken Rippenbogens an und
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