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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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Vorbemerkung für den Leser
    Ich wuchs als Sohn eines
Mannes auf, der unmöglich mein Vater sein konnte. Aber obwohl es niemals einen
Zweifel gab, dass mein Samen von einem anderen Mann stammte, nannte Moses
Froben, Lo Svizzero, mich »Sohn«. Und ich nannte ihn »Vater«. Wenn jemand es wagte, um eine
Erklärung zu bitten – was selten genug vorkam –, lachte er nur, als wäre der
Fragesteller schwer von Begriff. »Natürlich ist er nicht mein Sohn!«, sagte er
dann. »Seien Sie nicht albern.«
    Wenn ich selbst mir ein Herz nahm und
Fragen zu unserer Vergangenheit stellte, sah er mich nur traurig an. »Bitte,
Nicolai«, sagte er einen Augenblick später, als gäbe es eine Vereinbarung
zwischen uns, die ich vergessen hätte. Im Laufe der Zeit verstand ich, dass ich
die Geheimnisse um meine Geburt nie lüften würde, denn nur mein Vater kannte
sie und würde sie mit ins Grab nehmen.
    Davon abgesehen konnte es kein Kind
besser haben. Ich begleitete ihn von Venedig nach Neapel und schließlich
hierher, nach London. Bis ich nach Oxford ging, wich ich nur sehr selten von
seiner Seite. Selbst danach, als ich meine eigene unabhängige Laufbahn begann,
waren wir niemals länger als zwei Monate voneinander getrennt. Ich hörte ihn in
Europas größten Opernhäusern singen. Ich saß neben ihm in seiner Kutsche, wenn
Horden von Bewunderern nebenher rannten und darum bettelten, dass er ihnen ein
Lächeln schenkte. In all dieser Zeit wusste ich nichts über den armen Moses
Froben und kannte nur den berühmten Lo Svizzero, der mit einem bloßen Schwenken der Hand Damen in
Ohnmacht fallen ließ und mit seiner Stimme das Publikum zu Tränen rühren
konnte.
    Deshalb werden Sie sich meine
Verwunderung vorstellen können, als ich im letzten Frühjahr eine Woche nach dem
Tode meines Vaters einen Stoß Papiere unter seinen Sachen fand. Und mehr noch,
als ich darin alles fand, das zu erfahren ich getrachtet hatte: die Umstände
der Geburt meines Vaters und meiner eigenen, den Ursprung meines Namens. Ich
erfuhr, wer meine Mutter war. Und ich hörte von dem Verbrechen, das meinen
Vater zum Schweigen verurteilt hatte.
    Obgleich er offenbar mich als Leser im
Sinn gehabt hatte, kann ich nicht glauben, dass er nicht wünschte, auch andere
Augen mögen diese Worte lesen. Er war ein Sänger, müssen Sie bedenken, der bei
offenem Fenster übte, sodass jeder Mann und jede Frau, die auf der Straße
vorübergingen, die Möglichkeit hatten, einen Engel singen zu hören.
    Nicolai Froben
    London, 6. Oktober 1806

ERSTER AKT

I.
    Zuerst waren die Glocken da.
Drei an der Zahl, gegossen aus krummen Schaufeln, Rechen und Hacken, rissigen
Kesseln, stumpfen Pflugscharen, einem rostigen Ofen. In jede war eine einzige
Goldmünze eingeschmolzen. Sie waren grob und schwarz außer an ihren silbrigen
unteren Rändern, wo die Hämmer meiner Mutter eine Million Schläge geführt
hatten. Sie war klein genug, um im Glockenturm unter ihnen zu tanzen. Wenn sie
ausholte, sprang sie auf den glänzenden Holzdielen in die Höhe, und wenn der
Hammer auf die Glocke traf, läutete es von der Krone der Glocke bis in die
Zehenspitzen meiner Mutter.
    Es waren die Lautesten Glocken der
Erde, sagten alle Urner, und obwohl ich inzwischen eine noch lautere kenne,
bewirkte ihre Lage so hoch über dem Tal Uri, dass sie wirklich sehr laut waren.
Vom Wasser des Vierwaldstätter Sees bis zum Schnee des Gotthardpasses war sie
zu hören. Ihr Geläute begrüßte die Händler, die aus Italien kamen. Kolonnen von
Schweizer Soldaten pressten die Hände an die Ohren, wenn sie durch Uri
marschierten. Sobald die Glocken geläutet wurden, blieben Ochsengespanne
einfach stehen. Selbst die dicksten Männer mochten nicht mehr essen, weil ihre
Innereien erbebten. Die Kühe, die auf den nahe gelegenen Weiden grasten, waren
lange taub. Selbst die jüngsten Hirten hörten so schlecht wie alte Männer,
obwohl sie sich morgens, mittags und abends in ihren Hütten versteckten, wenn
meine Mutter ihre Glocken läutete.
    Ich wurde in diesem Glockenturm
geboren, über der winzigen Kirche. Dort wurde ich gestillt. Wenn es warm genug
war, schliefen wir dort. Solange meine Mutter nicht ihre Hämmer schwang,
kauerten wir unter den Glocken, umgeben von den vier offenen Seiten des
Glockenturms. Sie beschützte mich vor dem Wind und strich mir über die Stirn.
Obwohl sie nie ein Wort zu mir sagte oder ich eines zu ihr, betrachtete sie
meinen Mund, wenn ich babbelte. Sie kitzelte mich, um mich zum Lachen zu
bringen.
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