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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe
Autoren: Tess Gerritsen
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Prolog
    Tranquility, Maine, 1946
    Wenn sie leise genug wäre, mucksmäuschenstill, dann würde er sie nicht finden. Er glaubte vielleicht, alle ihre Verstecke zu kennen, aber er hatte nie ihre geheime Nische entdeckt, diese kleine Ausbuchtung in der Kellerwand, die von den Regalen mit den Einmachgläsern ihrer Mutter verdeckt wurde. Als kleines Kind hatte sie mit Leichtigkeit in diesen Hohlraum hineinschlüpfen können, und jedesmal, wenn sie Verstecken spielten, hatte sie in ihrer Höhle gekauert und sich ins Fäustchen gelacht, während er auf der Suche nach ihr frustriert von Zimmer zu Zimmer gestapft war. Manchmal hatte das Spiel so lange gedauert, daß sie eingeschlafen und erst Stunden später vom Klang der Stimme ihrer Mutter, die besorgt ihren Namen rief, geweckt worden war.
    Und jetzt war sie wieder hier, in ihrem Kellerversteck, aber sie war kein Kind mehr. Sie war vierzehn und konnte sich nur noch mit Mühe in die Nische hineinzwängen. Und das hier war kein fröhliches Versteckspiel.
    Sie konnte ihn oben hören, wie er auf der Suche nach ihr durch das Haus streifte. Er polterte von Zimmer zu Zimmer, fluchte und warf krachend Möbel um.
    Bitte, bitte, bitte. Hilft uns denn niemand? Bitte macht, daß er verschwindet.
    Sie hörte, wie er ihren Namen brüllte: »IRIS!« Seine knarrenden Schritte erreichten die Küche, näherten sich der Kellertür. Ihre Hände ballten sich krampfhaft zu Fäusten, und ihr Herz trommelte wild.
    Ich bin nicht hier. Ich bin weit weg, ich fliehe, fliege hoch in den Nachthimmel hinauf – Die Kellertür wurde urplötzlich aufgestoßen und krachte gegen die Wand. Goldenes Licht strömte von oben herab und hüllte ihn ein, als er in der offenen Tür am oberen Ende der Treppe stand.
    Er streckte die Hand aus und zog an der Lichtschnur; die nackte Glühbirne ging an und tauchte die tiefe Höhle des Kellers in ein schwaches Licht. Geduckt stand Iris hinter den Gläsern mit eingelegten Tomaten und Gurken und hörte, wie er die steile Treppe herunterkam; jedes Knarren brachte ihn näher zu ihr. Sie drückte sich tiefer in die Höhlung und schmiegte ihren Körper an die bröckelnde Wand aus Steinen und Mörtel. Sie schloß die Augen; bildete sich ein, unsichtbar zu sein. Über dem Hämmern ihres eigenen Herzschlags hörte sie, wie er am Fuß der Treppe anlangte.
    Sieh mich nicht. Sieh mich nicht.
    Die Schritte gingen geradewegs an den Regalen mit den Einmachgläsern vorbei und auf das hintere Ende des Kellers zu. Sie hörte, wie er eine Kiste umstieß. Leere Gläser zersprangen auf dem Steinboden. Jetzt machte er wieder kehrt, und sie konnte seinen keuchenden Atem hören, unterbrochen von grunzenden Tierlauten. Ihr eigener Atem war flach und schnell, und ihre Fäuste waren so fest geballt, daß sie glaubte, ihre Knochen würden zerspringen. Die Schritte kamen auf die Regale zu und blieben stehen.
    Sie riß die Augen auf und sah durch einen Spalt zwischen zwei Gläsern, daß er genau vor ihr stand. Sie war in die Hocke geglitten, so daß ihre Augen auf gleicher Höhe mit seinem Gürtel waren. Er zog ein Glas aus dem Regal und schmetterte es zu Boden. Der stechende Essiggeruch von Eingelegtem stieg vom Steinboden empor. Er griff nach einem weiteren Glas, doch dann stellte er es plötzlich zurück, als sei ihm ein besserer Gedanke gekommen. Er wandte sich ab und ging die Kellertreppe hoch. Im Hinausgehen zog er kurz an der Lichtschnur.
    Sie war erneut von Dunkelheit umgeben.
    Sie merkte auf einmal, daß sie geweint hatte. Ihr Gesicht war naß, Schweiß gemischt mit Tränen, aber sie wagte es nicht, auch nur ein Wimmern von sich zu geben.
    Oben bewegten sich die knarrenden Schritte zur Vorderseite des Hauses; dann war es still.
    War er gegangen? War er endlich weg?
    Sie verharrte reglos, wagte nicht, sich zu bewegen. Die Minuten vergingen. Sie zählte sie langsam im Kopf. Zehn. Zwanzig. Ihre Muskeln verkrampften sich; es tat so weh, daß sie sich auf die Lippe beißen mußte, um nicht zu schreien.
    Eine Stunde. Zwei Stunden. Immer noch kein Laut von oben.
    Ganz langsam kam sie aus ihrem Versteck hervor. Sie stand im Dunkeln und wartete, bis das Blut in ihren Adern wieder zu fließen begann und sie ihre Beine wieder spüren konnte. Sie lauschte und lauschte, die ganze Zeit.
    Sie hörte nichts.
    Der Keller war fensterlos, und sie wußte nicht, ob es draußen noch dunkel war. Sie schritt über die Glasscherben am Boden und ging zur Treppe hinüber. Sie stieg Stufe für Stufe nach oben; nach jedem
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