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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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gekommen. Als wöge sein Blick Tonnen.
    Dabei war das Kind sicherlich nicht schwer, sie hatte unter dem T-Shirt seine Rippen gesehen.
    Die Hände, die es um sein Saftglas gelegt hatte, waren nicht sehr sauber. Unter den Fingernägeln befanden sich dunkle Ränder, rötlich braun. Erde?
    »Was ist mit dir passiert?«, flüsterte Svenja. »Wo bist du abgehauen? Hör mal, ich habe in einer Dreiviertelstunde die Antrittsveranstaltung Anatomie … Ich meine, ich kann mich jetzt nicht mit dir beschäftigen … Ich … ich kann mich
überhaupt
nicht mit dir beschäftigen!« Sie merkte, dass sie aufgesprungen war, beinahe hatte sie das Kind angeschrien. Es kroch ein wenig in sich selbst hinein, hörte jedoch nicht auf, sie anzustarren.
    »Ich bin hergekommen, um zu studieren! Um mein Leben anzufangen! Nicht, um auf fremde Kinder aufzupassen! Wir gehen jetzt beide, du und ich, ich nehme den Bus zur Anatomie, und du gehst nach Hause. Verstanden?«
    Das Kind stand ebenfalls auf. Svenja seufzte. Gott sei Dank.
    Es ging an ihr vorbei, durch den Flur und ins Schlafzimmer. Dort rollte es sich auf dem schmalen Bett zusammen wie eine Katze und schloss die Augen.
    Svenja schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Ich habe nicht gesagt, dass du hierbleiben kannst. Hörst du? Du. Kannst. Nicht. Hier. Bleiben.«
    Aber das Kind schien bereits zu schlafen, sein magerer Brustkorb hob und senkte sich rhythmisch, es war innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Oder es tat so. Svenja setzte sich auf die Bettkante und strich vorsichtig das strähnige braune Haar beiseite. Die Wange darunter war bedeckt von einer feinen Dreckschicht, und darin war etwas wie Linien, Spuren von … Tränen? In den Haaren des Kindes hingen kleine Stücke von Ästen und Blättern. Seitlich am Kinn war es mit etwas Dunkelrotem beschmiert, das nicht von den Nudeln kam. Blut. Aber es gab keine Wunde dort. Es war, wenn es Blut war, das Blut von jemand anderem.
    Sie breitete die Flickendecke über das Kind und dachte an ihre Großmutter, die die Decke gemacht hatte, als sie selbst vielleicht neun Jahre alt gewesen war. Ihre Großmutter hatte immer gewusst, was zu tun war – was man auf aufgeschlagene Knie pinseln musste, wann es Zeit für Witze und wann es Zeit für Tränen war. Und dann hatte sie eines Tages gewusst, dass es Zeit war zu sterben, und hatte sich hingelegt und das getan.
    Svenja wusste
nicht
, was zu tun war. Niemand bringt einem in der Schule bei, wie man reagiert, wenn man im Schrank einer Mietwohnung ein Kind findet, das nicht mit einem spricht.
    Sie legte den neuen weißen Anatomiekittel in ihre Tasche. Darauf den kleinen Holzkasten mit dem Präparierbesteck, ebenfalls neu. Sie roch das Neue an ihren Händen. Doch als sie etwas später den Holunder zur Seite bog und die Haustür zuzog, hing in ihrem Kopf noch der dunkle Blick des Kindes. Und der dunkle Blick war auf merkwürdige Weise uralt.
     
    Die Straße draußen war bunt und voller Menschen, die in ihren Küchenschränken keine Kinder hatten. Die Schaufenster der Geschäfte strahlten im warmen Nachmittagslicht eine farbenfrohe Selbstzufriedenheit aus – Sommerkleider, Gummibärchen, Papierwaren, leuchtend bunte Tontassen.
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An der Ecke sang eine peruanische Volkstanzgruppe zur Panflöte, eine Ecke weiter spielte irgendwer Gitarre und sang mit geschlossenen Augen in einer völlig abstrusen Tonart. Gesprächsfetzen schwebten zwischen den Häusern: »nachher mit den Jungs auf dem Kahn« – »zum Freibad raus« – »heute Abend im Molière« – »muss ich noch für die Klausur« – »als wir beim Grillen oben auf den Roßwiesen« – »Erdbeereis?« Svenja sehnte sich danach, in dieses Meer an Sonnengesprächen hineinzutauchen, sorglos, schwerelos.
    Sie wählte einen Laden, der ausschließlich Gummibärchen verkaufte. Der Typ hinter der Theke wunderte sich über ihre Frage.
    »Was wollen Sie denn bei der Polizei?«, fragte er zurück und sortierte die roten Gummibärchen auf neue Weise neben die grünen.
    »Ich bin mir noch nicht sicher«, murmelte Svenja.
     
    Das Polizeigebäude, gekennzeichnet durch ein nüchternes Schild, ragte in einer der kleineren Seitenstraßen auf, die vom Markt nach unten führten und die für Svenja alle gleich aussahen. Die Stadt war ein Labyrinth aus Hügeln und Gassen, sich ähnelnden Ein- und Ausgängen, von Parks und Grünanlagen, und der Neckar, der einem vielleicht bei der Orientierung geholfen hätte, war
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