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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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Nein, nicht reglos, es blinzelte ab und zu. Es lebte.
    Es war ein lebendiges, kopfstehendes Kind in einem Schrank in einer möblierten Wohnung in der Altstadt von Tübingen.
    Svenja fragte sich, ob sie etwas getrunken oder geraucht und es dann vergessen hatte.
    »Hallo …«, sagte sie und verstummte, ratlos.
    Das Kind sagte nichts. Es starrte sie nur an. Sein Kopf befand sich auf Höhe ihrer Turnschuhe.
    Svenja schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das Kind war immer noch da. Es stand immer noch auf dem Kopf.
    Svenja erwiderte seinen Blick eine Weile stumm. Dann tat sie das Einzige, was ihr in dieser Situation angemessen erschien: Sie stellte sich ebenfalls auf den Kopf, mitten in der Küche. Jetzt sah sie das Kind richtig herum.
    Es war kein besonders hübsches Kind, es war mager und irgendwie … struppig. Sein braunes, strähniges Haar war lang, oder jedenfalls nicht kurz, und die Tatsache, dass sie auf dem Kopf stand, führte dazu, dass das Haar nach oben zu fallen schien, als würde es durch einen geheimnisvollen Magnetismus an die Decke gesogen. Die Augen des Kindes waren dunkel und blickten sie an, als könnten sie durch Svenja hindurchsehen.
    Svenja schätzte es auf etwa neun Jahre. Es trug ein helles, möglicherweise früher einmal weißes T-Shirt, das ebenfalls nach oben fiel statt nach unten. Auf dem bloßen Oberkörper darunter waren eine Menge Schrammen zu sehen. Die braune, formlose Cordhose war an den Knien mehrfach geflickt und wieder zerrissen. Das Kind wirkte, alles in allem,
secondhand
. Ein Gegenstand, den jemand nach Jahren der Abnutzung in diesen Küchenschrank gestellt hatte – aus Achtlosigkeit verkehrt herum – und der dort vergessen worden war.
    »Wohnst du hier im Haus?«, fragte Svenja, noch immer kopfstehend. »Hast du dich reingeschlichen, weil du wissen wolltest, wer in die Wohnung gezogen ist?«
    Das Kind sagte noch immer nichts. Seine Lippen waren zwei schmale, aufeinandergepresste Schweigen.
    »Du könntest einfach den Kopf schütteln oder nicken«, sagte Svenja. Nein, dachte sie dann, das konnte es nicht, nicht den Kopf – es stand darauf.
    »Du kannst nicht ewig hier auf dem Kopf stehen«, sagte sie.
    Das Kind schwieg.
    »Ich bin Svenja«, sagte Svenja.
    Das Kind schwieg.
    Es war unbequem, so lange auf dem Kopf zu stehen. Svenja ließ sich auf den Boden plumpsen, stand auf und wartete einen Moment lang, bis der Raum aufhörte zu schwanken. Als sie sich umdrehte, stand das Kind richtig herum im Schrank. Es starrte sie noch immer an, reglos. Vielleicht hatte sie sich nur eingebildet, dass es auf dem Kopf gestanden hatte.
    Auf dem schmutzig weißen T-Shirt stand in verblichenen grauen Buchstaben ein Wort.
    NASHVILLE
.
    »Nashville«, sagte Svenja.
    Das Kind starrte.
    »Ich mache Nudeln«, sagte Svenja. Sie goss die Nudeln ab und kippte einen Teil auf einen Teller. Überlegte einen Moment lang. Kippte den Rest auf einen zweiten Teller. Die Teller gehörten zur Kücheneinrichtung, weißes Porzellan mit hässlichen braunen Rosen am Rand. Es gab auch Löffel und Messer, aber keine Gabeln. Sie stellte die Teller auf den Tisch, löffelte Pesto auf beide und setzte sich.
    Als sie aufsah, saß das Kind auf dem zweiten Stuhl am Tisch. Svenja lächelte. Sie schob ihm den Teller schweigend hinüber, das Schweigen des Kindes war ansteckend. Es nahm den Löffel, den sie neben den Teller legte, und betrachtete ihn einen Moment lang. Im Löffel war sein Spiegelbild umgekehrt, es stand kopf, wie im Schrank.
    Dann begann das Kind, die Nudeln zu essen. Nein, das war das falsche Wort, es war eigentlich nicht zu sagen,
was
es mit den Nudeln tat, es war eine schnelle und hektische Beschäftigung, und sie endete nach zwanzig Sekunden damit, dass der Teller leer war. Das Kind wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und sah sie wieder an. Seine Augen waren noch dunkler geworden.
    Svenja schluckte.
    Etwas war nicht in Ordnung mit diesem Kind.
    Sie schob ihm ihren Teller ebenfalls hin. Diesmal dauerte es dreißig Sekunden, bis die Nudeln verschwunden waren. Svenja goss Apfelsaft in zwei Gläser. Sie tranken schweigend, trinken tat das Kind etwas langsamer als essen. Das Schweigen war sehr dick, es war angefüllt mit Svenjas Fragen und hing in der Küche wie Nebel. Draußen schien noch immer die Sonne, aber die Flügel der unsichtbaren Schmetterlinge in der Luft hatten sich bräunlich verfärbt. Das Licht war nicht mehr so leicht wie zuvor, mit dem Kind war etwas Schweres in die Wohnung
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