Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Tübingen war zu warm. Tübingen war zu bergig.
    Die Anatomie lag noch weiter oben, auf der Kuppe des Berges. Alles hier war neu, das Gras noch nicht hoch, die Flächen weit. Und zur Rechten, auf dem kurzen, breiten Fußweg zum Eingang, stand ein ebenso neues Kunstwerk: ein fleischfarbener Steinklotz mit einer Ritze in der Mitte. Eine riesige in Stein gehauene Vagina.
    Svenja blieb stehen und versuchte, zu Atem zu kommen. Diese Stadt war verrückt. Völlig. In Küchenschränken fand man Kinder und auf Bergen steinerne Geschlechtsteile.
    Das männliche Pendant war nirgends zu sehen. Vielleicht noch nicht fertig?
    Sie rannte die letzten Schritte und trat durch die gläserne Eingangstür hinein in eine kühle, farblose, sterile Welt.
    15 Uhr  55 .
    Sie hatte die Vorlesung vor dem Kurs verpasst. Verdammt.
    Sie folgte den Klängen einer tiefen, dozierenden Stimme und fand ihr Semester: eine geschlossene weiß bekittelte Wand in einem großen Raum. Hinter der Kittelwand sah Svenja durch die Fenster das grüne Hügelpanorama der Umgebung, wo es Sauerstoff und Licht gab. Hier drinnen waren diese Dinge großteils abwesend. Der strenge Geruch von Formalin hing zwischen den Wänden.
    Svenja streifte den weißen Kittel über, fischte den Holzkasten mit dem Präp-Besteck aus der Tasche und trat hinter die anderen Studenten – so unauffällig wie möglich.
    »Aha«, sagte die tiefe Stimme. »Und wer ist das?«
    Die Weißkittel vor Svenja teilten sich wie die Wasser des Meeres für Moses. Am anderen Ende des entstandenen Ganges stand ein schmaler, glänzend sauberer Metalltisch mit Abflussrinnen, auf dem etwas lag, das einen Kopf und Arme und Beine und einen Rumpf hatte. Über das Gesicht war ein Tuch gebreitet. Dahinter stand die dozierende Stimme. Sie trug ebenfalls einen Kittel und einen Ausdruck von Unerfreutheit in den Mundwinkeln. Der Prof.
    »Svenja …«, murmelte Svenja. »Svenja Wiedekind. Ich …«
    »Bei den Vorlesungen vor dem Präparierkurs handelt es sich um Pflichtveranstaltungen«, sagte der Prof. Svenja hatte keine Ahnung, wie er hieß, aber eine Ahnung, dass sie es wissen sollte.
    »… habe den Bus verpasst«, sagte Svenja.
    »Dann legen Sie sich vielleicht besser ein Fahrrad zu«, sagte der Prof ohne einen Anflug von Ironie. »Das verpasst man nicht so leicht. Kommen Sie doch mal nach vorne, Frau Wedekind. Wir verteilen heute die einzelnen Präpariergebiete, und Sie stehen auf meiner Liste … hier … Tisch sieben … Wedekind … Sonja … Ihr Gebiet ist … der Arm. Vielleicht können Sie kurz noch mal das Gedächtnis der anderen Studenten auffrischen, was die Knochen des Armes betrifft.«
    Svenja starrte das Ding auf dem Tisch an. Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen. Die Leiche war grau, oder allenfalls graubraun, und auf seltsame Weise gleichzeitig aufgedunsen und eingefallen. Eine Frau. Der Geruch nach Formalin war überwältigend, etwas davon tropfte an der Seite des Tisches hinunter. Wie lange lag dieses Ding schon in Formalin? Wie lange war es schon tot?
    Svenja spürte die Blicke der anderen Studenten. Sie hatte sämtliche Knochen des Armes vergessen.
    »Sie fallen uns doch jetzt nicht um, Frau Wedekind?«, erkundigte sich der Prof mit freundlicher Genugtuung.
    Jemand flüsterte: »Radius und Ulna.«
    In Svenjas Kopf fielen gelernte Worte durch eine Klappe wie Nudeln ins Wasser. Sie holte tief Luft und ratterte die Knochen des Armes und der Hand herunter, die Worte schlüpften aus ihrem Mund wie Fische.
    Schließlich nickte der Prof. »Danke«, sagte er. »Beim nächsten Mal sind Sie pünktlich. Und Sie sollten etwas mit ihren Haaren tun.« Er nickte zu den beiden garnumwickelten langen Strähnen hin. »Es ist unschön, wenn Haare ins Präpariergebiet hängen.«
    Eine halbe Stunde später stand Svenja mit ihrer Gruppe am Tisch Nummer sieben und sah ihren Händen beim Arbeiten zu. Handschuhhände. Unter der Haut des Armes lag das gelbe Fettgewebe in großen Zellen wie Bienenwaben, hauchdünne weiße Fäden verbanden es mit der Haut; es war eine endlose Arbeit, sie zu durchtrennen.
    Das Messer war scharf.
    Der Tutor, der Tisch sieben und acht betreute, schlich zwischen Metall und Fleisch hin und her, die Hände auf dem Rücken, und warf mit noch mehr Latein um sich. Als löste sich der Mensch nach dem Tod in lateinische Begriffe auf.
    Der Tutor war ein Student aus dem fünften Semester.
    »Ist jemandem schlecht?«, fragte er hoffnungsfroh. »Am Anfang wird allen schlecht. Später könnt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher