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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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derart beobachtet vorkommen konnte.
    »Ja, guckt nur«, sagte sie zu den Möbeln. »Wir werden uns schon anfreunden. Keine Sorge, ich drücke keine Zigaretten auf Holzschränken oder Polstersofas aus.«
    Das war die große Angst des Vermieters gewesen. Er hatte mehrfach darauf hingewiesen, dass das Ausdrücken von Zigaretten im Aschenbecher zu geschehen habe und dass Nichtraucher ihm am liebsten seien, es aber unter den Studenten wohl wenige davon gebe, und letztendlich müsse man nehmen, was man kriege … In dieses kleine Loch von einer Wohnung wollte kaum jemand ziehen. Der Haken, er hatte es erst spät zugegeben, waren der Schimmel an den Wänden und der Boiler im Bad, der nur unzuverlässig arbeitete; ob es warmes Wasser gab, war vom Zufall abhängig.
    Svenja nahm auch diese Tatsache mit Genugtuung in Besitz.
    Das Leben, das in der kleinen Wohnung auf sie wartete, war ein Leben jenseits von warmem Wasser, jenseits von Sicherheiten und elterlichen Ratschlägen. Alles, was sie von nun an tat, entschied sie selbst, und wenn der Boiler im Bad selbst entschied, wann er das Wasser anwärmte, dann sollte ihr das recht sein.
    Sie lachte und drehte sich im Kreis, mitten in der Küche. Dann strich sie die beiden langen bunt gewickelten Garnsträhnen in ihrem kurzen blonden Haar hinters rechte Ohr zurück, krempelte die Ärmel ihres zu großen weißen Männerhemdes hoch und begann einzuziehen.
    Als Erstes hängte sie ihre Kleider in den alten Bauernschrank, der das Schlafzimmer beinahe ausfüllte. Das Bett war gerade breit genug für eine Person, das Fensterbrett gerade breit genug für die Topfsonnenblume, die Svenjas Mutter ihr geschenkt hatte.
    Auf dem Platz vor der Jakobuskirche war der Frühling schon ein Sommer, die Luft, die durch die offenen Fenster hereingaukelte, war voll von Gedanken an Schmetterlinge. Im Blau des Himmels hing eine Ahnung von Lemonbier auf Parkbänken. Merkwürdig, wenn sie in ihrem Hin und Her in der Wohnung stehen blieb, war da etwas wie eine Erinnerung an Dinge, die noch gar nicht geschehen waren. Weißt du noch, hörte sie sich selbst sagen, zu einem gesichtslosen Unbekannten. Weißt du noch, als wir im Schatten der Jakobuskirche saßen, im zweiten Semester, an jenem Abend …
    Die Schatten des ordentlichen schwäbischen Mobiliars wichen verschreckt zurück, als Svenja ihre Kräuterdosen neben den Herd und ihre Bücher ins Regal stellte
(Andersens Märchen, Wanderführer Tübingen, Das Kamasutra)
. Am Boden des Koffers entdeckte sie einen großen neonorangefarbenen Aufkleber mit den Worten
VORSICHT GIFTMÜLL
, den sie irgendwo in der Uni Leipzig hatte mitgehen lassen, und klebte ihn auf die geblümten Fliesen neben dem Klo.
    Zum Schluss legte sie die bunte Flickendecke, die ihre Großmutter ihr einmal gestrickt hatte, aufs Fußende des Bettes und hängte ihr einziges Poster über den Küchentisch: ein auf DIN A 3 ausgedrucktes Foto von ihrer letzten Reise. Das Bild zeigte sie selbst, eine Klassenkameradin und einen Spanier, in den sie ein bisschen verknallt gewesen war, dessen Sätze sie aber nie verstanden hatte. Zwei zusammen verbrachte Tage am Meer hatten die Sache nicht erheblich weitergebracht. Die beiden zusammen verbrachten Nächte schon.
    Sie würde ihn nie wiedersehen. Sie war hier, um das Leben wirklich zu beginnen, jenseits von betrunkenen Feriennächten. Ein richtiges Leben mit richtigen Beziehungen.
    Sie war auf vage Weise sehr entschlossen, in Tübingen einen Mann zu finden; keinen netten Jungen, einen Mann.
    Sie schaffte es erst nach drei Versuchen, die Gasflamme des Herdes anzuzünden.
    Sie setzte Nudelwasser auf.
    Sie öffnete ein Glas mit Pesto.
    Sie stellte einen Teller auf den Tisch.
    Lauter kleine, selbstständige Gesten eines neuen, selbstständigen Lebens.
    In genau zweiundneunzig Minuten begann die Einführungsveranstaltung Anatomie für ihr Semester. Dann würde sie die anderen sehen. Die anderen. Lauter neue, nie gesehene Gesichter voller neuer, noch nicht geschehener Geschichten; lauter Menschen, die ebenfalls ihre eigenen Herren waren, mit Beginnen von eigenen Leben beschäftigt.
    Svenja ließ die Nudeln ins Wasser rieseln wie kleine gelbe Tiere. Sie hatte vergessen, Salz zu kaufen. Vielleicht gab es hier irgendwo Salz? Sie öffnete die untere Tür des großen, alten Küchenschranks.
    Im Küchenschrank stand ein Kind auf dem Kopf und sah sie von unten herauf an.
    Svenja trat einen Schritt zurück.
    Vor ihr im Schrank stand das Kind weiter auf dem Kopf, reglos.
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