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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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    Das Messer ist scharf.
    Über die Hand, die es hält, läuft ein langer Schnitt: Ergebnis eines Versuchs, die Klinge zu testen. Das Messer ist scharf, scharf genug. Das ist wichtig.
    Er wird nicht schreien. Er wird nicht zum Schreien kommen.
    Er schläft.
    Durchs Fenster, von außen, konnte man es sehen.
    Es war übrigens nicht schwierig, in den Wohnblock hereingelassen zu werden, man brauchte nur irgendwo zu klingeln: »Die Zeitung!« Irgendwer hat den Summer gedrückt. Die Wohnungstür war nicht so leicht zu öffnen. Aber man kann ja im Vorfeld die notwendigen Recherchen betreiben, geduldig beobachten, man kann Schlüssel entleihen, wenn sie unter der Fußmatte liegen, kann sie nachmachen lassen.
    Das Schlafzimmer liegt am Ende des Flurs, zur Rechten. Dort also schläft er. Durchs Fenster hat er so jung ausgesehen, unschuldig träumend hinter seinen geschlossenen Augenlidern.
    Der Teppichboden im Flur schluckt die Schritte, stiller Komplize. Auch die Schlafzimmertür lässt sich sehr leise öffnen. Ja, da liegt er, reglos, im Tiefschlaf gefangen. Er wird diesem Tiefschlaf nie wieder entrinnen. Ach, beinahe will man ans Bett herantreten und ihm übers Haar streichen wie einem kleinen Kind, zärtlich. Beinahe will man seinen Namen flüstern.
    Das Bettzeug ist hellblau mit winzigen weißen Punkten; das rote Blut wird darauftropfen wie Farbe auf eine Leinwand. Es ist vielleicht ganz hübsch.
    Da ist ein Telefon auf dem Nachttisch. Man könnte selbst den Notarzt rufen. Natürlich erst, nachdem das Blut aufgehört hat zu tropfen. Es geht ja nicht darum, zu verschwinden, geht nicht um Heimlichkeiten. Es geht nur darum, das hier zu tun.
    Wenn sie den Besitzer der Hand mit dem Messer einsperren, ist das nicht wichtig. Wichtig ist, was vorher geschah. Wichtig ist, warum das Messer geschliffen wurde und von wem und für wen und warum der dort unter der hellblauen Decke sterben wird. Eine Minute hat er noch. Eine letzte.
    Wer schläft in dem Bett? In dem Bett schläft ein Mensch.
    Wer steht vor der Tür? Vor der Tür steht ein Mensch.

1 Türen
    Alles in ihr sang, als sie die Tür öffnete.
    Die Tür war alt und brauchte dringend einen neuen Anstrich. Sie befand sich seitlich an einer Art seltsamem Vorbau an der Fassade. Man musste einen der Zweige beiseiteschieben, um sie überhaupt öffnen zu können. Sie quietschte.
    In der Dunkelheit dahinter lag ein modriges, altes Treppenhaus, dunkel und fensterlos, aber oben in der Wohnung standen die Fenster offen, und eine großartige hellgelbe Welle aus Licht und Luft kam hereingeflutet, um die alten Tapeten zu erleuchten wie eine Filmkulisse. Eine Kulisse für einen Beginn. Die blank gewetzten Stellen an der Wand glänzten golden in diesem Licht, die Stockflecke in den Ecken hatten abenteuerlich bedeutsame Umrisse.
    Svenja blieb in der Küchentür stehen und atmete das Gefühl ein, etwas zu besitzen. Nicht die Wohnung, die Wohnung gehörte natürlich dem Vermieter. Aber das Neue, das Neue an sich.
    »Hier bin ich«, flüsterte sie und wiederholte dann, lauter: »Hier bin ich.«
    Sie stellte den Rucksack und den Koffer mitten in die Küche und trat ans Fenster. An der Wand darunter sprossen die hellgrünen Jungtriebe eines uralten wilden Weins. Draußen ragte der Turm der Jakobuskirche in den blassblauen Frühlingshimmel. Auf dem schattigen Platz hinter der Kirche stritten ein paar Tauben um eine zerfetzte Bäckertüte. Der Platz lag verborgen in einer Art Nebenzeile der Stadt. Man hörte den Lärm der Autos und des Lebens nur von ferne, doch mit fünfundzwanzig Schritten war man da, sie hatte gezählt, man brauchte nur um die Ecke zu gehen und stand mitten im Innenstadtgewimmel.
    Die Wohnung war perfekt.
    »Hier bin ich«, sagte Svenja ein drittes Mal. »Und ich bleibe.«
    Man sollte sich, wenn man bleiben wollte, natürlich vorstellen. Sie drehte sich einmal im Kreis, betrachtete den klobigen alten Küchenschrank, den wackligen Tisch mit der Spanholzplatte, die laminierte Anrichte.
    »Ich bin Svenja«, sagte Svenja zu den Möbeln. »Svenja Wiedekind. Achtzehn Jahre alt. Studentin. Medizin, zweites Semester. Das erste Semester habe ich zu Hause gemacht, in Leipzig. Aber das zählt quasi nicht, da habe ich noch bei meiner Mutter gewohnt. Das wirkliche Studentenleben, mein Leben, beginnt hier und jetzt. In dieser Wohnung.«
    Die Wohnung antwortete nicht, aber Svenja spürte, wie sie sie musterte. Sie hatte nie gedacht, dass man sich in einer leeren Wohnung
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