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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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nie da, wenn man ihn brauchte.
    Sie würde die Straße mit dem Polizeigebäude vermutlich nur dann wiederfinden, wenn sie von dem Gummibärchengeschäft aus losging, und das war eine Vorstellung, über die sie lachen musste – sollte sie irgendwann zum Beispiel einen Mord beobachten, würde sie panisch zu dem bunten Schaufenster mit den Gummibärchen rennen, damit sie die Polizei erreichen konnte. Besser noch, die Leute fragen: Sagen Sie, wo ist das Gummibärchengeschäft? Es ist ein Notfall!
    So stand sie also vor der dicken, hell getünchten Mauer und lachte, sie lachte gerne manchmal so für sich allein. Aber dann sah sie an der Mauer empor, und die Mauer war hoch, und das Lachen verkroch sich in der Tiefe und verschluckte sich an sich selbst. Das Tor, das in den Hof führte, war ein altes Tor, die Mauer war eine alte Mauer. Es gab keine Fenster darin.
    Sie trat in den Hof und fand zur Linken eine chaotische Sammlung von Briefkästen und Fahrrädern.
STUDENTENWOHNHEIM PFLEGHOFSTRASSE
, sagte ein Schild. Die Räder standen hinter einer Wand aus Maschendraht, die vom Boden bis unter die Decke reichte, als wären sie mittelalterliche Gefangene. Dahinter führte eine düstere Treppe in unbekannte Höhen.
    Svenja wollte wieder lachen, weil sich im Hof der Polizei ein Studentenwohnheim befand, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Der Tag war warm, ein warmer Tag im Mai, und hinten im Hof führte eine kleine Treppe zu etwas wie einem grünen Garten hoch. Aber Svenja steckte frierend die Hände in die Ärmel. Vom Eingang zum Polizeirevier war nichts zu sehen.
    »Sie sind ja schwer zu finden«, sagte Svenja übungshalber. »Ich wollte … ich habe … quasi … ein Kind gefunden. Verkehrt herum, im Küchenschrank. Es hat zwei Teller Nudeln mit Pesto gegessen, das ist nämlich das Einzige, was ich kochen kann, zu Hause hat meine Mutter gekocht … Meine Mutter hätte vielleicht gewusst, was man mit dem Kind machen sollte … Wird irgendwo ein Kind vermisst? Es ist ziemlich dreckig und hat diese Kratzer überall … Es schläft jetzt auf meinem Bett, es ist einfach dort eingeschlafen, als wäre es vollkommen erschöpft … Nein, ich weiß nicht, wie es heißt. Nein, ich weiß nicht, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist.« Sie hob die Schultern, hilflos, und sah an den Mauern empor. Immerhin gab es zum Hof Fenster. Sie stellte sich vor, wie sie das Kind hier abliefern würde. Sie sah, wie die dunklen Augen durch eines der Fenster hinausblickten, auf den Hof.
    Und dann blickten die Augen sie an. Vorwurfsvoll.
    »Nein«, flüsterte Svenja. »Ich kann es nicht hier abgeben. Es ist ja kein Portemonnaie, das man findet und abgibt. Es ist ein Mensch.« Sie drehte sich ein Mal im Kreis, den Blick noch immer zu den Fenstern erhoben. »Und außerdem«, fügte sie entschuldigend hinzu, »ist das hier sowieso fürchterlich schlecht ausgeschildert. Niemand kann in diesem Hof die Polizei finden.«
    Erst als sie kurz darauf auf dem Holzmarkt in der Sonne stand, dem Platz vor der Stiftskirche, wurde ihr wieder warm. Das bunte Gewirr der Stimmen und Farben schwappte in freundlichen Maistrudeln um sie herum, und sie atmete auf. Vielleicht gab es das Kind gar nicht. Das Kind nicht und nicht sein Schweigen und nicht die Dunkelheit in seinen Augen.
    Die Uhr an der Stiftskirche zeigte Viertel vor drei. Um drei würde die Einführungsveranstaltung beginnen. Sie rückte ihre Tasche zurecht, dachte kurz darüber nach, welche die richtige der mindestens fünf Tübinger Himmelsrichtungen war, und rannte.
     
    Die Anatomie war durch Rennen nicht zu erreichen. Sie lag, genau wie eine Menge anderer Institute, oben auf dem Schnarrenberg. Eine endlose mehrspurige Straße zog sich in einer Schleife dort hinauf, eine Wüste von einer Straße. Svenja hatte sie sich auf dem Stadtplan angesehen, aber dort sah man die Steigung nicht, und das Wort
Berg
hatte sie überlesen.
    Es gab Bushaltestellen. Es gab auch Busse. Aber sie hatte keine Zeit, auf einen zu warten. Sie hetzte den Gehweg neben der Straßenwüste aufwärts: zehn Schritte gehen, zehn Schritte rennen, nicht auf die Uhr sehen, zehn Schritte gehen, zehn Schritte rennen. Zur Linken die mit Holzstreben verkleideten Klötze eines weiteren Studentenwohnheims, quer gestreift, ein Unfall von zu gewollter Schwedizität. Schließlich ragten andere, höhere Klötze neben der Straße auf, Klinikklötze in hellen Pastellfarben. Svenja schwitzte, das weite Männerhemd und die Jeans klebten an ihr.
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