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Fantastik AG

Fantastik AG

Titel: Fantastik AG
Autoren: Jan Oldenburg
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    Â 
 
Raum 043a
    Â»Die Phantastik«, sagte Professor Hieronymus C. Welk,
»ist eine ernst zu nehmende Wissenschaft wie jede andere auch.«
    Er machte eine Pause, um sich zu sammeln. Der Vortrag strengte ihn
heute ungemein an, obwohl er erst seit fünf Minuten redete. Ein so großes
Publikum war er nicht mehr gewohnt: Ganze zwölf Studenten – der Professor
hatte sie bei seinem Eintreten mit wachsender Beunruhigung gezählt – hielten
die letzten beiden Reihen besetzt und erweckten ernsthaft den Eindruck, an
einer phantastischen Lehrveranstaltung teilnehmen zu wollen.
    Kurz hatte Professor Welk erwogen, die Vorlesung aufgrund des
überfüllten Hörsaales abzubrechen.
    Wobei Hörsaal eine etwas übertriebene
Bezeichnung für den bescheidenen Raum war, den man dem Professor aus organisatorischen Gründen zugewiesen hatte, nachdem das
Institut für Phantastik den Negativrekord von weniger als fünf ordnungsgemäß
eingeschriebenen Studenten erreicht hatte. Ganz zu schweigen von der geringen
Zahl derer, die tatsächlich ihren Abschluss machten. Die letzte phantastische
Dissertation war vor mehr als dreiundzwanzig Jahren am Institut eingereicht worden
und hatte den vielversprechenden Titel getragen: ›Das Problem der
stilistischen Kontinuität bei zwergischen Artefakten der proto- und hochklassischen
Epoche‹. Mittlerweile betrieb ihr Verfasser einen mäßig erfolgreichen
Imbissstand vor dem Bahnhof.
    Â»Keineswegs darf es sich die Phantastik, entgegen einer vielleicht
populären Vorstellung, erlauben, willkürlichen Spekulationen Raum zu geben.«
    Der Professor hatte sich nicht beschwert, als man ihn und sein
Institut in den Raum 043a abgeschoben hatte, jenen fensterlosen, in den
Katakomben des Universitätskellers gelegenen Raum 043a mit seinen altmodischen,
wurmstichigen Stuhlreihen, den dunklen Wandvertäfelungen aus Eichenholz, dem
vergilbten Transparent mit Dr. Rettelbecks ›Überblick über die Fünf Hauptklassen
der Fabeltiere‹ und dem ewig flackernden Deckenlicht.
    Niemals waren in diesem Raum Worte wie Beamer oder Power-Point-Präsentation erklungen. Handys
hatten kein Netz.
    Ohne die zusätzliche Belegung des Tutoriums ›Rote Fäden:
Orientierung in Labyrinthen I‹ war Hörsaal 043a kaum zu finden (Die
Veranstaltung fand ebenfalls in 043a statt – eine zugegeben etwas
problematische Raumbelegung.). Der Legende nach bleichten im universitären
Untergrund noch immer die Knochen zahlloser Erstsemester, die auf dem Weg verschollen
gegangen waren. Diese wahrscheinlich ein wenig übertriebenen Gerüchte hatten am
Rückgang der Zahl neuer Studienbewerber aber wohl weniger Anteil als die
prekären Berufsmöglichkeiten, die ein Studium der Phantastik in Aussicht
stellte.
    Professor Welk störte dies alles wenig. Im Gegenteil. Es entsprach
sogar genau seinen eigenen Ansichten über das Wesen der akademischen
Phantastik.
    Phantastische Lehrveranstaltungen bekamen in diesem Rahmen etwas
Geheimbündlerisches, Verschworenes. Es gab die Phantastik und es gab die Welt da draußen. Dazwischen klaffte
ein tiefer Graben.
    Drinnen eine Handvoll hochspezialisierter Gelehrter, draußen der … unbestimmte Rest. (Obwohl von einer Handvoll zuletzt vor
siebenunddreißig Jahren hatte gesprochen werden können, beim Großen
8. Internationalen Kongress der Phantastik.)
    Die heutige Lehrveranstaltung grenzte dagegen an Massenhysterie –
zwölf Studenten: in einer einzigen Phantastikvorlesung!
    Â»Um es mit einem Wort des großen Phantastikforschers Ludowig zu
sagen: Der Phantastiker ist mitnichten ein Phantast.«
    Professor Welk hatte das Gefühl, als ließe er eine Schar buntgeflügelter
Blumenelfen in einem unterkühlten Labor für anatomische Experimente frei.
    Â»Zu Beginn meiner Vorlesung möchte ich zunächst einige Werke
nennen, die als absolute Basisbibliothek anzuschaffen ich Ihnen dringend rate.
Die meisten oder alle der genannten Werke sind selbstverständlich nicht mehr
als Neuauflagen erhältlich, dürften jedoch in gut sortierten Antiquariaten zu
bekommen sein.«
    Einer der Studenten hob den Arm. Im ersten Augenblick dachte der
Professor, der junge Mann wolle seiner Nachbarin etwas an der Decke zeigen,
bevor ihm klar wurde: Er meldete sich. Das war eine
Ausnahmesituation, die in diesem Hörsaal seit 1973 nicht mehr vorgekommen
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