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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land
Autoren: Sherko Fatah
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1.
    I ch sitze hier und beobachte dich wie einen Fremden. Aber ich kenne dich. Vielleicht werde ich es dir nie sagen: Ich kenne dich, ich kenne dich gut. Es ist einige Jahre her. Es ist eine Ewigkeit her. Lange genug, um mich nicht mehr zu erkennen. Aber wie auch, du schaust mich nicht an, du schaust nie jemanden direkt an. Du bist der wichtige Doktor aus dem fernen Deutschland. Und ich, was bin ich schon? Der Bote, den du nicht brauchst, der dir lästig ist. Aber würdest du mich anschauen, dann wüsstest du es sofort. Wir waren uns einmal so nahe wie zwei eingesperrte, verängstigte Hunde, wir hatten den gleichen Dreck in unseren Mäulern, und in jener fernen, kalten Nacht war unsere Angst eine, wir waren ein furchtsames Tier mit zwei Köpfen. Wir haben den Tod gesehen, wie er leibhaftig über die morastige Erde schritt. Seine schmutzigen Stiefel ließen den feuchten Boden schmatzen. Er war schmal von Gestalt, hatte einen großen Kopf mit hoher Stirn. Er sprach deine Sprache. Du hast ihn sicher nicht vergessen. Niemand kann das. Aber vielleicht willst du ihm nur einfach um keinen Preis je wieder begegnen, und sei es nur in der Erinnerung, im Gesicht eines Überlebenden aus jener Zeit. Ich verstehe dich, ich verstehe dich gut, du wichtiger Mann.
    Und doch, Gottes Wege sind unerforschlich, bist du hierhergekommen. Du hättest überall hingehen können nach dem Krieg. Aber nein, du bist hier, vor meinen Augen, und allein dein Anblick bringt mir die alte Furcht zurück, die uns beide einmal umschlossen hielt wie eine Faust.
    Ich rutschte auf dem Holzstuhl herum, den mir der Doktor am ersten Tag hingestellt hatte. Wortlos, ohne Gruß oder eine andere Regung erledigte dieser hochgewachsene, drahtig wirkende Mann die Sache selbst. Er ließ mich, den Boten, einfach mitten im Krankensaal stehen und kam nach kurzer Zeit mit dem Stuhl zurück. Nah am Fenster stellte er ihn ab. Als er wieder an mir vorbeiging, wies er nur hinter sich.
    Ich sah ihm nach, als er aus dem Saal verschwand. Wir hatten kein Wort gewechselt, obwohl wir einander verstanden hätten. Ich hatte geglaubt, Dr. Stein sei mit den hiesigen Sitten vertraut. Die natürliche Autorität, mit der er sich bewegte und kurze Anweisungen auf Englisch gab, die ruhige Art, in der er seine Hände hob, um wie ein erstarrter Dirigent zu warten, bis jemand vom Personal ihm die Gummihandschuhe von den Händen zog, all das hätte mich nie zweifeln lassen an der Kompetenz des Arztes. Doch dieser Mann verstand nichts. Anstatt mich mit dem Zettel loszuschicken, auf dem Dinge notiert waren, die er brauchte, ging er selbst in den Basar. Ich war erstaunt, als er mit den kleinen Paketen zurückkam, sich mir vorsichtig näherte und die Sachen hinhielt wie Geschenke. Doch ich sollte sie nur verwahren, bis der Doktor am frühen Abend nach Hause ging.
    Das war nicht richtig. Es war beleidigend. Ich sah es ihm nach. Schließlich war dieser Mann hier ein Fremder. Er konnte nicht wissen, dass jeder Fremde, noch dazu ein so wichtiger wie er, Anspruch auf jemanden hatte, der seine Einkäufe erledigte, seine Briefe holte oder wegbrachte oder ihn zu Leuten führte, die er besuchen wollte. Er hätte es lernen können, wenn er nur einmal gefragt hätte. Dann aber, dachte ich und wiegte den Kopf, hätte er vielleicht auch mehr erfahren, als ihm lieb war. Er hätte mich erkannt, und alles, was wir gesehen hatten, wäre in diesem Augenblick anwesend gewesen, hätte den Raum zwischen uns erfüllt.
    So aber saß ich tagein, tagaus auf meinem Stuhl am Fenster, starrte in den Saal oder auf den Hof des Krankenhauses hinaus und wartete. Jedes Mal, wenn der Doktor erschien, fuhr ich zusammen und richtete mich auf, weil ich erwartete, beansprucht zu werden. Und jedesmal war es eine kleine Enttäuschung, wenn es nicht geschah.
    Manchmal an diesen langen Nachmittagen fragte ich mich, ob ich mich nicht doch irrte. Ob ich den Mann, den ich von früher kannte, einfach nur wiedererkennen wollte in diesem Arzt aus Europa. Ich hatte nur mit wenigen Menschen über meine Erlebnisse gesprochen. Als ich zurückkehrte, war meine Fähigkeit zu berichten oder gar zu erzählen erloschen. Wem auch hätte ich davon erzählen sollen, wie eine Welt in Trümmern versank, während hier, in meinem Land, alles beim Alten war. Die vertrauten Gassen und Straßen, die gewohnte Hitze und Langsamkeit, nichts hatte sich verändert. Niemand hätte mir geglaubt, was ich gesehen hatte. Ich wusste es im Moment, da ich den Fuß auf
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