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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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wie Wasser. Stimmen lärmten durcheinander, Worte flogen: Die Polizei. Einen Arzt.
    Svenja fiel auf die Knie und hob Nashville auf, riss ihn an sich, kroch mit ihm weg, weg von Gunnar, zwischen die Tische, kroch, als wäre sie selbst verletzt. Sie konnte ihn kaum halten, da war zu viel Rot, alles wurde unübersichtlich und flüssig, ihre Finger rutschten ab.
    Da war ein Martinshorn. Noch sehr weit weg. Vielleicht war es auch noch gar nicht da, vielleicht war es Einbildung.
    Friedel kniete neben ihr.
    »Nashville«, sagte sie, »Nashville, Nashville.«
    Sie hielt ihn in ihren Armen wie damals, als er krank gewesen war. Wie an dem Tag, an dem er sich für ein Geburtstagsgeschenk hatte zusammenschlagen lassen. Wie an diesem Morgen, als sie ihn zum soundsovielten Mal in seinem und ihrem Leben wiedergefunden hatte.
    Katleens graues T-Shirt, das ihm bis zu den Knien reichte, war klitschnass, nicht einmal mehr rot, sondern schwarz vor Nässe.
    Er hatte keine Kraft mehr, seinen Kopf zu halten, sie hielt ihn mit einer Hand, sah ihn an. In seinem Gesicht waren Spritzer von Blut, aber seine Augen, die immer dunkel gewesen waren, waren auf einmal hell.
    »Fast«, sagte er. »Ich hätte ihn fast … erledigt. Er war … stärker. Ich weiß jetzt, dass … er wirklich stärker war. Aber ich bin … nicht mehr weggelaufen. Ich hab … es versucht.«
    »Sch, sch«, flüsterte Svenja. »Nicht reden! Streng dich nicht an. Sie sind gleich da, alles wird gut, jetzt kommst du doch noch ins Krankenhaus, aber das ist in Ordnung so, sie flicken dich wieder zusammen, du wirst es schaffen, du musst es schaffen, für mich, sie sind gleich da, gleich …«
    »Svenja«, sagte Friedel und schüttelte den Kopf. Da erst verstummte sie. Nashvilles Gesicht war sehr weiß. Er sah sie noch immer an.
    »Svenja«, sagte Nashville, und aus seinem Mund klang ihr Name ganz anders. So, als hätte er eine unendliche Bedeutung, schwer wie ein Stein. Schwer wie ein Schrank, in dem man kopfstehen kann. Schwer wie der Raum zwischen den Zeilen und wie die Welt, wenn sie umgekehrt ist.
    »Wenn … wenn ich es schaffe«, flüsterte er. »Schläfst du dann mit mir?«
    Verkorkste Frage eines seltsamen, verkorksten Kindes.
    Sie lächelte und beugte sich näher zu ihm, hilflos unter seinem Blick.
    »Natürlich«, sagte sie.
Später, wenn du erwachsen bist.
»Natürlich, natürlich …« Sie hätte alles gesagt. Alles.
    Er nickte und lächelte zufrieden.
    Vielleicht sogar glücklich. Dann hob er die Hand, wie um durch ihr Gesicht zu streichen, aber er schaffte es nicht mehr. Seine Hand fiel auf halbem Wege hinunter. Das Helle in seinen Augen erstarrte.
    Es versteinerte für immer, konserviert, ewig.
    Wie der König auf seinem kleinen, altmodischen Fahrrad mit dem winzigen Vogel auf dem Lenker – dem für immer starren Vogel, der so gerne fliegen wollte.
     
    Das Martinshorn war jetzt ganz nah.
    Die Stühle und Tische wurden beiseitegerückt, endlich, eine Gasse geschaffen.
    Friedel blieb bei ihr auf dem Boden sitzen, bis sie da waren. Er half ihr hoch, als es keinen Grund mehr gab, auf dem Boden zu sitzen. Sie sah, wie sie den kleinen Körper auf eine Trage legten und die Trage in den Notarztwagen schoben, sie sah die blinkenden Anzeigen, die Schläuche, die digitale Zuversicht der Geräte. Alles wird gut. Sie sah die eiligen Gesichter der Sanitäter. Doch sie wusste, dass es keinen Grund zur Eile mehr gab.
    Und »Alles wird gut« war nur ein Satz.
    Auch Gunnar lag jetzt auf einer Trage. Da war ein zweiter Wagen, der ihn mitnahm. Da war zu viel Rot zwischen dem Weiß der Tücher.
    Svenja blieb stehen, zusammen mit Friedel und Katleen. Sie standen mitten auf dem Platz, unter den grünen Armen der Kastanie, und blickten den beiden Wagen nach. Der Platz war immer noch voller Leute.
    Aber Svenja sah die Szene von oben, als wäre sie eine Filmkamera, die langsam in den Himmel davonschwebte, herauszoomte aus der Naheinstellung. Sie sah sich und Friedel und Katleen auf einem völlig leeren Platz stehen, einem Platz ohne Stühle und, seltsamerweise, auch ohne die Kastanie. Nur der kleine Fahrradkönig auf seinem Sockel war geblieben. Die drei Gestalten mitten auf dem Platz wirkten sehr einsam in dieser letzten langen Kamerafahrt. Und natürlich spielte im Abspann jemand
Lili Marleen
. Unerträglich kitschig. Wenigstens das Akkordeon hätten sie weglassen können.
     
    Aus dem stillen Raume,
    aus der Erde Grund,
    hebt mich wie im Traume
    dein verliebter Mund.
    Wenn sich
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