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Tief

Tief

Titel: Tief
Autoren: Mike Croft
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Prolog
    Erst bei Einbruch der Dunkelheit hatte Blackfin sich so nah an den Strand herausgewagt. Es war eine warme Augustnacht, aber es regnete in Strömen, und der Mond war hinter dichten Wolken verborgen. Das Meer war hier schmutzig, und die Wellen spülten über seinen breiten Rücken. Unerkannt dümpelte er im ablaufenden Wasser. Rechts von ihm ragte ein merkwürdiges Bauwerk – Brighton Pier – ins Wasser hinein, stach in den Bauch des Meers, und er beobachtete die Menschen, die darauf herumliefen. Was ein Rummelplatz war, wusste er natürlich nicht, aber er spürte, dass die Menschen spielten. Die Lichter, die sie anscheinend so sehr mochten, blitzten und blinkten. Sie spiegelten sich im verregneten Meer, während der Lärm, in dem die Menschen sich so freudig bewegten – donnernde Rhythmen, klingende Glocken, kreischende Sirenen –, über den Pier hinausbrandete und die Umgebung erfüllte. Die Menschen schrien und jauchzten, während sie in ihren wahnsinnigen Maschinen herumwirbelten.
    Auch Blackfin hatte einmal gespielt. Damals war er noch jung gewesen. Als er zum ersten Mal mit seiner Junggesellenherde in den kalten Ozean gezogen war, hatten sie bei Sonnenuntergang Scheinkämpfe miteinander ausgefochten, sie hatten sich gejagt, geschubst, tot gespielt und angeberische Mätzchen gemacht. Knapp unter der Oberfläche waren sie durchs Wasser gerast, hatten sich aufgebäumt und waren dann spektakulär in die Luft gesprungen. Oder sie hatten sich tief im nahrungsreichen Polarmeer irreführende Botschaften geschickt; er hatte sich den Bauch mit trägen Tintenfischen vollgeschlagen, jedoch signalisiert, dass es kaum Beute gab. Aber das war schon eine Ewigkeit her, und die Zeit zum Spielen war vorbei.
    Blackfin war ein ausgewachsener Pottwal, riesig und mit Kampfnarben bedeckt. Mit dem Alter war das Bedürfnis nach Einsamkeit gewachsen. Er lebte allein an den Polen des Planeten und gab sich dem uralten Rhythmus hin:tauchen, fressen, aufsteigen, an der Oberfläche schwimmen, atmen, tauchen, fressen, aufsteigen, an der Oberfläche schwimmen, atmen. So gefiel es ihm. Einmal im Jahr, vielleicht auch nur einmal in zwei Jahren, machte er sich auf den Weg in wärmere Gewässer, um sich zu paaren. Wenn er auf eine etwa zwanzigköpfige Herde stieß – zwei oder drei alte Weibchen, fünf oder sechs geschlechtsreife Weibchen, ein Dutzend Jungtiere –, dann blieb er von einem Vollmond bis zum nächsten bei ihnen. Eine Zeit lang war es ganz angenehm, von den jungen Walen verfolgt zu werden. Er brachte ihnen alles bei, was sie über Routen, Nahrungsgebiete und Jagdtechniken wissen mussten. Aber er hielt es selten lange aus, so sehr sehnte er sich nach der Einsamkeit.
    Was hatte ihn jetzt getrieben, seine fischreichen, einsamen Tiefen zu verlassen, um in unbekannte, flache Gewässer zu schwimmen?
    Er war schon seit einigen Wochen unterwegs. Bei Tagesanbruch hatte er das Ende der Welt erreicht. Das Meer, das zwischen zwei Landmassen lag, war hier flach und schmutzig, ein stinkender Tunnel, durch den er sich schob. Überall waren Menschen – Schiffe und Boote in jeder Größe, Röhren und Kabel unter Wasser, Netze, denen man ausweichen musste, überall Schmutz – und dann noch der Lärm, unablässiger Lärm, der die Schallwellen durcheinanderbrachte, bis sein Gehirn schmerzte. Aber er hatte alles ertragen, bis er gegen Mittag an seinem Ziel angekommen war. Dann hatte er gewartet.
    Er wartete noch immer, und als die Nacht halb verstrichen war, meldete Blackfins scharfes Gehör neuen Lärm. Am Ende des Piers hatte ein Nachtclub aufgemacht. Die hypnotische Musik drang durch die Mauern und vibrierte in den Tausenden von Metallstreben. Von dort strahlte sie in eine verständnislose Unterwasserwelt aus. Auch am anderen Ende des Strands nahm der Lärm zu. Pubs und Clubs unter der Esplanade füllten sich, und das betrunkene Geschrei von Männern und Frauen walzte die Küste entlang und übertönte den Regen und die langen Seufzer des Meers.
    Es war schon beinahe Tag, als Blackfin seine Wache beendete. Endlich lag der Pier verlassen da, die Lichter waren ausgeschaltet, und die Clubs an der Promenade hatten ihre Gäste ausgespuckt. Noch eine Stunde hatte es gedauert, bis Ruhe in diese seltsame Menschenwelt einkehrte: Männer und Frauen hatten sich grunzend in dunklen Ecken herumgedrückt und waren dann doch, jeder für sich allein, nach Hause gegangen; junge Männer hatten die letzten, fettigen Reste ihres Kebabs oder Burgers gegessen
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