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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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geschrieben! Er hat dich damit in diesen Raum gelockt, stimmt’s? Und dann die Tür verriegelt? Wir haben es erst jetzt erfahren. Ich habe dich gesucht, Nashville, die ganze Zeit. Ich …« Sie zog ihn an sich, und er war leicht wie eine Feder. Leichter. Er starrte sie weiter an, reglos.
    Sah er sie? Erkannte er ihre Stimme? Oder war er zu weit weg?
    Sie heulte schon wieder, und die Tränen liefen über ihr Gesicht und über sein Gesicht und malten Spuren in den Dreck darauf. Seine Lippen waren aufgesprungen, und ein Auge entzündet und verklebt. Er stank bestialisch nach einer Mischung aus Fäkalien, Dreck, saurem Hungeratem und Erbrochenem. »Nashville«, flüsterte sie. »Ich liebe dich.«
    Da stellte er seine Augen scharf wie ein Fernglas, sie war sich auf einmal sicher, dass er sie ansah. Und er lächelte. Nur ein wenig, so wie die Leute auf den Vorher-Nachher-Bildern der Blutspendeplakate, bei denen Svenja sich lange gefragt hatte, ob es überhaupt einen Unterschied gab. Es gab einen. Sein Lächeln änderte alles.
    »Wir rufen jetzt den Notarzt«, sagte sie.
    Nashville schüttelte den Kopf. Sehr langsam, aber sehr entschlossen.
    »Bitte, Nashville, wir
müssen
einen Arzt rufen.«
    Nashville lächelte wieder und schüttelte wieder den Kopf. Dann schloss er die Augen und hing in ihrem Arm, noch immer angeklammert wie ein kleines Tier. Es war unglaublich, dass er ihr vertraute, nach dem, was er die letzten zwei Wochen über gedacht haben musste. Aber er vertraute ihr. So weit, dass er glaubte, sie würde keinen Arzt rufen, wenn er es nicht wollte.
    Sie schluckte.
    »Wir rufen keinen Notarzt«, sagte sie.
    »Aber«, sagte Friedel.
    »Bitte«, sagte Svenja. »Sei ein letztes Mal in deinem Leben unvernünftig. Ich kann ihn nicht noch einmal verraten, wo er doch die ganze Zeit dachte, ich hätte genau das getan …«
    »Hey«, sagte Katleen hinter ihnen. »Hier wären die Decken und die Thermos… ach, du Scheiße.« Sie ließ sich neben Svenja und Kater Carlo auf die Knie fallen. »Zu mir«, sagte sie, ohne überhaupt etwas von der Notarzt-Diskussion zu wissen. »Eure Bauwagensiedlung ist zu weit weg, und Svenja hat kein Zuhause mehr. Karl, du trägst ihn.«
     
    Tübingen, Stauffenbergstraße, ein Morgen im Juli: Prozession von fünf Fahrrädern und einem leblosen Kind auf dem Arm eines Kunststudenten.
    Sah jemand die Prozession? Fiel sie auf, erregte sie Interesse? Fragte jemand nach?
    Niemand sah sie. Niemand fragte.
    Nur die peruanische Panflötengruppe, die in der Innenstadt ihren immer gleichen Auftritt vorbereitete, hielt inne, und alle ihre Mitglieder nahmen die Mützen ab wie bei einer Beerdigung. Jemand sagte etwas auf Polnisch, was keiner in der Prozession verstand.
    Die übrigen Leute gingen vorbei, gingen weiter, gingen.
    Die Prozession bewegte sich in einem Raum zwischen den Zeilen.
     
    Diesmal wurde es kein Lager unter dem Tisch.
    Sie legten Nashville auf das Bett in der Küche. Er öffnete die Augen nicht. Svenja zog ihn aus, und Friedel half ihr, ihn notdürftig zu säubern und ihm eines von Katleens grauen T-Shirts anzuziehen, während sie warteten.
    Sie warteten auf Friedels Vater, den Friedel angerufen hatte.
    Und er kam. Svenja hatte sich ein Monster vorgestellt, einen Vater, der seinen Sohn zwingt, Medizin zu studieren und alles Mögliche andere zu tun, was er nicht will. Er war ein stiller, leicht pummeliger Mann mit freundlichen Mundwinkeln und wenigen Worten im Gesicht. Er hörte Nashville ab, zählte seinen Puls und legte ihm eine Flexüle. Sie hängten die Infusionsflasche an Katleens altmodische Stehlampe.
    »Glukose und Elektrolyte«, sagte Friedels Vater. »Nichts Wildes.«
    Dann nahm er Friedel mit raus in die Madergasse, weil es in Katleens Wohnung keinen anderen Raum zum Reden gab, außer vielleicht den sorgsam gekehrten Treppenaufgang. Svenja sah aus dem Fenster. Sie rauchten zusammen, dort unten, und redeten und redeten und redeten. Friedel erklärte ihm Dinge, vermutlich. Er gestikulierte auf Friedel-Art, wild, ausfahrend. Seine Rastalocken flogen dabei wie wirre Gedanken. Er war noch immer der alte Friedel, und irgendwie beruhigte Svenja das.
    »Ich mag ihn sehr«, sagte sie am Fenster zu Katleen.
    »Ich auch«, sagte Katleen. »Man braucht nicht immer alle Leute zu lieben oder nicht zu lieben.«
    Svenja nickte. »Sie rauchen zusammen«, sagte sie dann. »Ich dachte, Friedel raucht nur Grünes? Kater Carlos eigene Balkon- und Bauwagenzucht?«
    Katleen beugte sich ein wenig
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