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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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meinte Svenja. »Aber das Meer ist nur eine Sache von tausend. Ich möchte seinen Geburtstag herausfinden und ihn so feiern, wie er das will. Ich möchte ganz weit wegfahren mit ihm, in einem dummen alten VW -Bus … Wir könnten uns all diese Städte angucken, in Italien oder Spanien oder sonst wo, und uns überall auf den Kopf stellen, um sie richtig herum zu sehen. Weil, weißt du, vielleicht sind es ja wirklich die anderen, die alles verkehrt herum sehen … Ich möchte zusehen, wie er älter wird.« Sie flüsterte jetzt. »Wenn er Auto fahren lernt, bin ich … bin ich fast dreißig. Na ja, eigentlich eher sechsundzwanzig. Hast du mal darüber nachgedacht, dass der Unterschied
kleiner
wird, wenn man älter wird? Das ist merkwürdig.«
    Er ließ ihre bunten Garnsträhnen durch die Finger gleiten wie vor langer Zeit. »Svenja?«
    »Hm?«
    »Du hast gesagt, du würdest alles tun. Würdest du …« Er zögerte. »Würdest du ihn loslassen?«
    Sie setzte sich gerader hin. »Wie meinst du das?«
    »Würdest du ihn zu Leuten geben, die sich auf andere Art um ihn kümmern? Ich meine, Erwachsene? Wirklich Erwachsene? Eine Familie?«
    Sie wollte sagen, dass sie sich um alles selbst kümmern konnte. Und dass er anfing, zu reden wie Gunnar. Beinahe wollte sie aufspringen und wütend sein. Dann sah sie Friedel an und nickte.
    »Ich würde«, sagte sie.
     
    In diesem Moment klingelte Friedels Handy. Er stellte es auf laut, ehe er abnahm.
    »Kommt her«, sagte Kater Carlo. »Wir haben gefunden ihn. Aber bitte, Friedel.« Man hörte, wie er zögerte. »Mach nicht zu viele Hoffnung für Svenja. Bringt ihr mit vielleicht ein Decke oder so. Es sieht nicht gut aus.«
    »Karl? Gib mir mal. Friedel, hier ist Thierry. Wir sind in diesem Garten, oben auf dem Österberg, den du uns gezeigt hast.«
    »On the way«
, sagte Friedel.
    Sie riefen Katleen an, die versprach, sich um die Decke und etwas zu essen und eine Thermoskanne Tee zu kümmern. Svenjas Beine versagten beinahe, als sie die Stauffenbergstraße hinauffuhren.
    Der Morgen blühte schon in den Blumenbeeten. In den uralten Bäumen bei den Verbindungshäusern erwachten tausend Singvögel. Erste Autos sprangen an, oder letzte – an manchen Orten waren die Gespräche, die Tänze und die Feiern der Nacht erst jetzt beendet. Die Erker und Türme der Gebäude ragten unwirklich aus dem Frühnebel: eine Märchenwelt.
    Aber im Paradiesgarten, dem ersten und einzigen Paradiesgarten, hingen unverkäufliche Juwelen aus Tau in den Spinnennetzen. Die wilden Wiesenblumen blühten an diesem Morgen alle rot.
    Svenja und Friedel öffneten das Gartentor und folgten Thierrys und Kater Carlos Spuren durch die morgenrosa Graswelt. Die Spuren endeten am Schuppen.
    Jemand hatte das alte, rostige Schloss an der Tür mit einem Messer aufgehebelt. Und drinnen, in einem gelben Dämmerlicht wie Eiter und Erinnerung, knieten Kater Carlo und Thierry auf dem Boden, mitten in einer chaotischen Ansammlung von alten Gartenstühlen und angeschimmelten Umzugskisten. Auf einer der Kisten lag, sorgsam ausgebreitet auf dem blaugrauen Halstuch, Nashvilles Messersammlung.
    Die Sessel und auch die Kisten waren alle aufgeschlitzt, Inhalte und Füllung quollen heraus wie Eingeweide. Es war ein Schlachtfeld. Der Kämpfer hatte alle seine Gegner getötet. Jetzt war er nicht mehr fähig zu kämpfen. Er lag auf dem Boden, den Kopf in Kater Carlos Schoß, die Augen geschlossen.
    »Wir haben gefunden so«, sagte Kater Carlo. »Er atmet.«
    »Notarzt«, sagte Thierry knapp. »Wir wollten nur euer Okay.«
    Svenja kniete sich neben Nashville. Seine Kleidung starrte vor Dreck, und er war so abgemagert, dass sie ihn kaum erkannte. Er atmete zu schnell und zu flach. Sein Puls raste.
    Neben ihm stand ein alter Blumenuntersetzer mit einer Pfütze Wasser darin. Immerhin hatte er Wasser gefunden.
    »Ja«, sagte sie. »Rufen wir den Notarzt. Die sollen ihn holen kommen. Aber ich gehe mit.«
    In dem Moment, in dem sie das sagte, blinzelte Nashville, und dann öffnete er die Augen und starrte sie an, mit seinem dunklen, durchdringenden Blick, der ihr am Anfang Angst gemacht hatte.
    Und sie vergaß alle Notärzte der Welt.
    »Nashville«, flüsterte sie und nahm seine Hände, deren Fingerspitzen wund und teilweise blutverkrustet waren, als hätte er versucht, mit bloßen Händen zu graben. Vielleicht hatte er das. Ehe es das Loch in der Mauer gegeben hatte.
    »Nashville, der Zettel war nicht von mir. Ich habe diesen Zettel nie
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