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Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Titel: Enwor 4 - Der steinerne Wolf
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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PROLOG
    Es war still in dem großen, leeren Raum. Obwohl die Wände an vielen Stellen geborsten und durchbrochen waren und weder den Wind noch das rote, flackernde Licht der Sonne zurückhalten konnten, sperrten sie doch nachhaltig jedes Geräusch, jeden noch so winzigen Laut und jedes Zeichen von Leben aus und verwandelten den steinernen Saal in eine Gruft. Die Kälte war auch hier bemerkbar, vielleicht stärker als draußen; ein unsichtbarer, klammer Hauch, der wie flüsternder Nebel über dem Boden und zwischen den wenigen verfallenen Möbelstücken hing und ihn frösteln ließ. Aber es war mehr als Kälte, das fühlte er, weit mehr als der klirrende Hauch des Schnees, der die Berge und die verfallene Festung mit einem weißen Leichentuch überzog. Es war die Seele Coshs, die er spürte, die Stimme des Sumpfes, die ihnen wie ein unsichtbarer Begleiter gefolgt war: ihre Anwesenheit, ihren Atem, das sanfte Tasten unsichtbarer Finger, mit dem sie irgend etwas tief in seinem Inneren zu berühren oder vielleicht auch nur zu suchen schien. Die schlanke Gestalt auf dem steinernen Lager vor ihm schien hinter einer unsichtbaren Wand aus flimmernder Luft zu liegen, als hätten sich die Gesetze der Natur auf den Kopf gestellt und ließen die Luft nun vor Kälte wabern, und wenn er nur lange genug hinsah und sich dem Flüstern des Nebels und der eisigen Feuchtigkeit hingab, dann begannen ihre Umrisse zu verschwimmen, sich aufzulösen, und auf den erstarrten Lippen des Toten erschien wieder dieses flüchtige, junge Lächeln, dessen wahre Bedeutung vielleicht nur Skar selbst gekannt hatte. Tränen füllten seine Augen und zeichneten dünne Spuren von Wärme auf seine erstarrte Gesichtshaut. O ja, er fühlte Schmerz, jetzt, nachdem alles vorbei war. Einen größeren und furchtbareren Schmerz als je zuvor. Er hatte geglaubt, jenseits von Trauer und Leid zu sein, nachdem er einmal den Haß kennengelernt hatte, aber das stimmte nicht. Wie oft war er in den letzten vier Tagen hier gewesen? Ein dutzendmal? Zwei? Er wußte es nicht mehr. Er wußte auch nicht mehr, wie oft er so wie jetzt neben Dels Lager gesessen und die reglose, tote (es kostete ihn Überwindung, das Wort auch nur in Gedanken zu formulieren, denn es auszusprechen bedeutete, es zuzugeben, und es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich wünschte, die Augen vor der Wahrheit verschließen und sich in irgendeinen Winkel verkriechen zu können) Gestalt des jungen Satai betrachtet hatte, wie oft ihr Leben — ihr gemeinsames Leben, denn das, was vorher gewesen war, zählte nicht (auch das begriff er erst jetzt) — an ihm vorübergezogen war. Mit Del war ein Teil von ihm gestorben, ein Teil von ihm, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn gab. Haß? Als er neben der blutbesudelten Gestalt im Schnee gekniet und in die offenen, mit Rauhreif bedeckten Augen des Toten gesehen hatte, hatte er für einen kurzen Moment geglaubt, Haß zu empfinden, aber auch das war nicht wahr gewesen. Es war nichts als Schmerz, nur ein anderer Ausdruck dieses Gefühles, und selbst das Ding in seinem Inneren, diese böse, flüsternde Stimme, die sonst jeden Augenblick der Schwäche ausnutzte, um ihn zu verhöhnen und zu verspotten, hatte geschwiegen. Del war tot, und das war alles. Es war so einfach, so brutal und so sinnlos, daß er am liebsten geschrien hätte, und vielleicht war dies das einzige, das wirklichen Zorn in ihm hervorrufen konnte. Sein Tod hatte keinen Sinn gehabt, und wenn doch, dann nur den, ihn — Skar — zu treffen und zu verletzen. Der Wolf hatte ihn gemeint und Del getötet, brutal und berechnend die Stelle auswählend, an der er seinem Opfer den größtmöglichen Schmerz zufügen konnte.
    Das Geräusch leiser Schritte drang in seine Gedanken, und für einen winzigen Moment war es Skar, als husche eine unsichtbare, rasche Bewegung durch den Raum, ein lautloses Huschen und Flüchten, als zögen sich die Schatten und der klamme Griff Coshs eilig zurück. Er sah auf, starrte Gowenna eine endlose Sekunde lang an und erhob sich mit einer langsamen, mühevollen Bewegung. Gowenna wollte etwas sagen, aber er schüttelte rasch und mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, den Kopf, deutete auf den Ausgang und ging an ihr vorbei. Eine schattenhafte Gestalt erhob sich neben ihm, wartete, bis Gowenna das Haus ebenfalls verlassen hatte, und trat dann lautlos hinein. Skar wußte nicht, wer es war — El-tra, Kor-tel oder irgendeiner der anderen namen-
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