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Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit
Autoren: Robert Silverberg
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seine Geburt nicht vergessen. Und seiner Mutter, erinnerte er sich, würde er niemals vergeben, daß sie ihn in ein Leben geworfen hatte, das er haßte. Er verfluchte den Augenblick, an dem er ...
    »Guten Tag, Tom. Es ist lange her.«
    Siebzehn Jahre waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen, hatten tiefe Linien in ihr Gesicht geschnitten, ihre Wangen schlaffer, ihre Augen weniger strahlend werden lassen. Das braune Haar war mausgrau geworden. Sie lächelte, und zu seiner eigenen Überraschung war Niles in der Lage, zurückzulächeln.
    »Mutter.«
    »Ich habe es in der Zeitung gelesen. Es stand drin, daß man einen Mann, etwa dreißig, am Stadtrand gefunden hat. Er hat Papiere auf den Namen Thomas R. Niles bei sich und wurde ins Zentrale Bezirkskrankenhaus gebracht. Also kam ich her, um herauszufinden ... und du warst es.«
    Eine Lüge ging Niles durch den Kopf, aber es war eine freundliche Lüge, und so sagte er: »Ich war unterwegs nach Hause, um dich zu besuchen. Per Anhalter. Unterwegs hatte ich aber etwas Ärger.«
    »Ich bin froh, daß du nach Hause kommen wolltest, Tom. Es war sehr einsam dort, seit dein Vater starb, und natürlich hat Hank geheiratet und Marian auch ... Es ist schön, dich wiederzusehen. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet.«
    Benommen legte Niles sich zurück und fragte sich, warum die erwartete Haßwelle nicht kam. Er verspürte nur Wärme für seine Mutter. Er war froh, sie wiederzusehen.
    »Wie war es – all die Jahre, Tom? Du hattest es nicht leicht. Ich sehe es in deinem Gesicht.«
    »Es war nicht leicht«, sagte er. »Du weißt, warum ich fortgelaufen bin?«
    Sie nickte. »Weil du anders warst – die Sache mit deinem Gehirn – du kannst nicht vergessen. Ich wußte es. Dein Großvater hatte das auch, mußt du wissen.«
    »Mein Großvater ... aber ...«
    »Du hast es von ihm. Ich glaube, ich habe es dir nie erzählt. Er kam mit niemandem von uns gut aus. Meine Mutter verließ er, als ich ein kleines Mädchen war, und ich wußte nie, wohin er gegangen ist. Ich wußte immer, daß du genauso fortgehen würdest wie er. Nur: Du bist zurückgekommen. Bist du verheiratet?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Da wird es langsam Zeit dafür, Tom. Du bist fast dreißig.«
    Die Zimmertür ging auf, ein tüchtig aussehender Arzt erschien. »Ich fürchte, Ihre Zeit ist um, Mrs. Niles. Sie können ihn später noch sprechen. Jetzt, da er wach ist, muß ich ihn untersuchen.«
    »Natürlich, Doktor.« Sie lächelte den Mann an, dann Niles. »Wir sehen uns später, Tom.«
    »Sicher, Mutter.«
    Niles legte sich zurück und runzelte die Stirn, während der Arzt ihn hier und da abtastete. Ich habe sie nicht gehaßt. Verwunderung machte sich in ihm breit, und dann wußte er, daß er schon viel früher nach Hause hätte zurückkehren sollen. Er hatte sich innerlich verändert, ohne es zu wissen.
    Wegzulaufen war die erste Stufe des Erwachsen-Werdens, und eine notwendige dazu. Später aber mußte man zurückkehren, das war das Zeichen für Reife. Er war zurück. Und plötzlich war ihm klar, wie schrecklich albern er sein bisheriges Leben als Erwachsener geführt hatte.
    Er hatte eine Gabe, eine großartige, eine Ehrfurcht einflößende Gabe. Bis jetzt war sie zu groß für ihn gewesen. Sich selbst bemitleidend und quälend, hatte er es nicht geschafft, seinen Mitmenschen ihre Unvollkommenheit zuzugestehen und sich dafür ihren Haß zu einem hohen Preis zugezogen. Aber er konnte nicht ewig davonlaufen. Die Zeit würde für ihn kommen, erwachsen genug zu sein, seine Gabe zügeln zu können, mit ihr zu leben, statt sich in selbstverschuldetem Mitleid zu verausgaben.
    Jetzt war die Zeit gekommen – sie war schon lange überfällig.
    Sein Großvater hatte die Gabe gehabt; das hatten sie ihm nie gesagt. Also war es genetisch übertragbar. Er konnte heiraten, Kinder haben, die auch nicht vergessen würden.
    Jetzt war es seine Pflicht, seine Gabe nicht mit sich aussterben zu lassen. Andere seiner Art, weniger empfindsam, mit einem dickeren Fell, würden nach ihm kommen, würden wissen, wie man sich an eine Beethoven-Symphonie oder ein zehn Jahre altes Flüstern erinnerte. Zum erstenmal seit jenem vierten Geburtstag verspürte er ein zögerndes Aufflackern des seltenen Glücksgefühls. Die Tage des Herumtreibens waren vorbei – er war wieder zu Hause. Wenn ich lerne, mit anderen zu leben, werde ich vielleicht imstande sein, mit mir selbst zu leben.
    Er sah deutlich vor sich, was er jetzt brauchte: Eine Frau, ein
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