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Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit
Autoren: Robert Silverberg
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Lkw-Fahrer, stämmige Männer in dunklen Seemannsjacken, standen dicht voreinander. Automatisch kam bei Niles die Erinnerung: Louis schlug Max Schmeling am 22. Juni 1938 im Yankee-Stadion in New York in der ersten Runde k.o. Niles war nie ein Sportanhänger gewesen und mochte Boxen überhaupt nicht – aber er hatte einmal einen Blick auf ein Kalenderblatt geworfen, auf dem Joe Louis' Titelkämpfe aufgeführt waren, und natürlich hatte er die Daten im Gedächtnis.
    Uninteressiert sah er zu, wie der größere der beiden Fahrer zehn Dollar auf die Bar legte, der andere bot zehn dagegen. Dann sah der erste zu dem Barkeeper auf und sagte: »Okay, Mann. Du bist ein kluges Kerlchen. Wer hat recht mit dem zweiten Louis-Schmeling-Kampf?«
    Der Barkeeper war ein unscheinbarer Mann mittleren Alters, dem langsam die Haare ausgingen. Er hatte freundliche, leere Augen. Jetzt biß er sich kurz auf die Unterlippe, zuckte die Schultern und sagte schließlich: »Kann ich mich nur schwer dran erinnern. Das muß fünfundzwanzig Jahre her sein.«
    Zwanzig, dachte Niles.
    »Mal überlegen«, fuhr der Barmann fort. »Ich glaube, ich erinnere mich ... ja, sicher. Es ging über die vollen fünfzehn Runden, und die Schiedsrichter sprachen den Kampf Louis zu. Ich erinnere mich an den großen Stunk, den es darüber dann in den Zeitungen gab – Joe hätte ihn viel schneller fertigmachen können.«
    Ein triumphierendes Grinsen erschien auf dem Gesicht des größeren Fahrers. Gewandt steckte er das Geld in die Tasche.
    Das Gesicht des zweiten Mannes verzog sich, und er schrie: »He, ihr zwei habt euch vorher abgesprochen! Ich weiß verdammt genau, daß Louis den Deutschen in einer Runde k.o. schlug!«
    »Du hast gehört, was der Mann gesagt hat. Das Geld gehört mir.«
    »Nein«, sagte Niles plötzlich mit leiser Stimme. Halt den Mund, sagte er sich selbst schnell. Das geht dich nichts an, halt dich heraus!
    Aber es war zu spät.
    »Was sagen Sie?« fragte der Mann, der das Geld verloren hatte.
    »Ich sage, daß Sie betrogen werden. Louis hat den Kampf in einer Runde gewonnen, wie Sie sagen. Am 22. Juni 1938 im Yankee-Stadion. Der Barkeeper denkt bestimmt an den Arturosic/Godoy-Kampf. Der ging über fünfzehn Runden, am 9. Februar 1940.«
    »Da – hab ich doch gesagt! Gib mir mein Geld wieder!«
    Aber der größere Fahrer ignorierte den Ruf und wandte sich zu Niles um. In seinem Gesicht war keine Regung, seine Fäuste ballten sich bereits. »Kluges Bürschchen, was? Box-Experte?«
    »Ich möchte nur nicht, daß jemand betrogen wird«, sagte Niles hartnäckig. Er wußte, was jetzt kam. Der Lkw-Fahrer torkelte betrunken auf ihn zu, der Barkeeper schrie auf, die übrigen Besucher zogen sich zurück.
    Der erste Schlag traf Niles in die Rippen; er stöhnte und stolperte rückwärts, nur um von zwei Händen an der Kehle gepackt und dreimal geschlagen zu werden. Weit entfernt hörte er eine Stimme: »He, laß den Mann los. Er wollte keinen Ärger! Willst du ihn umbringen?«
    Ein Hagel von Schlägen traf Niles; ein Treffer ließ sein linkes Auge anschwellen, eine Faust traf ihn betäubend an der Schulter. Er drehte sich um seine Achse, stand unsicher auf den Beinen, während ihm deutlich bewußt war, daß seine Erinnerung jeden Augenblick seines Leidens registrierte.
    Durch halbgeschlossene Augenlider sah er, wie drei andere den tobenden Mann wegzerrten. Er trat noch einmal nach Niles' Bauch, streifte aber nur eine Rippe, dann war er überwältigt.
    Niles stand allein mitten im Raum und zwang sich, stehenzubleiben, versuchte, den Schmerz zu verdrängen, der sich aus einem Dutzend Stellen an seinem Körper meldete.
    »Sind Sie in Ordnung?« fragte eine besorgte Stimme. »Teufel, das sind rauhe Burschen. Sie sollten sich nicht mit ihnen einlassen.«
    »Ich bin in Ordnung«, sagte Niles hohl. »Ich ... ich muß nur etwas Luft holen.«
    »Hier, setzen Sie sich. Trinken Sie was, das bringt Sie wieder auf Trab.«
    »Nein«, sagte Niles. Ich kann hier nicht bleiben, ich muß weiter . »Es geht schon«, murmelte er ohne Überzeugung. Er nahm seinen Koffer auf, schloß den Mantel vor seiner Brust, dann verließ er langsam die Bar.
    Er kam fünfzehn Meter weit, bevor der Schmerz unerträglich wurde, und fiel der Länge nach auf das Gesicht. Er spürte den eiskalten Boden an seiner Wange und versuchte ohne Erfolg, sich wieder aufzurappeln. Dann lag er einfach da, erinnerte sich an all die Schmerzen in seinem Leben, die Schläge, die Grausamkeiten, und als das
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