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Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit
Autoren: Robert Silverberg
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glücklich, und glücklich ging er auch zu Bett.
    Niles ließ die Feier zweimal ablaufen, wie einen alten Film, den er gerne mochte; die Erinnerung blieb klar und gestochen scharf, es war keine Kopie, die sich im Lauf der Jahre abnutzte. Er schmeckte das süße Punsch-Aroma auf der Zunge, er verspürte wieder die Wärme dieses Tages, an den ihm durch einen Zufall die anderen ein klein wenig Glück geschenkt hatten.
    Dann ließ er dieses strahlende Fest verblassen und befand sich wieder in einem grauen, kühlen Nachmittag in Indianapolis, allein in einem möblierten Acht-Dollar-Zimmer.
    Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, dachte er bitter. Herzlichen Glückwunsch.
    Er starrte auf die fleckige grüne Wand, an der etwas schief ein billiger Corot-Druck hing. Ich hätte etwas Besonderes sein können, brütete er, eines der Weltwunder. Statt dessen bin ich eine herumschleichende Abnormität, die in schäbigen Hinterzimmern haust und nicht wagt, die Welt wissen zu lassen, was sie kann.
    Er ging seine Erinnerungen ein wenig durch und holte eine Toscanini-Aufführung von Beethovens Neunter hervor, die er in der Carnegie Hall in New York gehört hatte. Sie war unendlich besser als die Aufführung, die Toscanini später für die Schallplatte eingespielt hatte, und doch war kein Mikrophon dagewesen, um das Ereignis aufzuzeichnen. Die brillante Aufführung wäre aber durch Mikrophone kaum in ihrer Großartigkeit wiederzugeben gewesen – anders im Gehirn eines Menschen. Niles hatte alles da: das majestätische Donnern der Pauken, das widerhallende, durchdringende Wummern des Basses, der die Melodie des Finales vorantrieb, selbst das unsaubere Horn, das den Maestro so in Wut brachte, das wilde Husten im ersten Rang gerade während des zarten Adagios, das scharfe Kratzen von Niles' Schuhen, als er sich in seinem Sessel nach vorn lehnte ...
    Er hatte alles da – in höchster Klangtreue.
     
    Drei Monate später erreichte er in einer mondlosen, klirrend kalten Januarnacht die kleine Stadt. Von Norden wehte ein scharfer Wind, pfiff durch seine dünne Kleidung und ließ den Koffer in seiner tauben, unbehandschuhten Hand zu einer fast nicht tragbaren Last werden. Er hatte nicht vorgehabt, an diesen Ort zu kommen, aber in Kentucky war ihm das Geld ausgegangen, und so war ihm nichts anderes übriggeblieben. Er war unterwegs nach New York, wo er monatelang unbehelligt leben konnte und wo man seine Unhöflichkeit übersehen würde, wenn er einen Bekannten absichtlich übersah oder jemanden grüßte, der ihn schon lange vergessen hatte.
    Aber New York war noch Hunderte von Kilometern entfernt, und in dieser Januarnacht hätten es Millionen sein können. Er entdeckte ein Schild: BAR. Er zwang sich, auf das flackernde Neonlicht zuzugehen; gewöhnlich trank er nichts, aber jetzt brauchte er die Wärme des Alkohols im Körper, und vielleicht brauchte der Barkeeper eine Hilfe oder vermietete ihm für das bißchen Geld, das er noch in der Tasche hatte, ein Zimmer.
    Fünf Männer saßen in der Bar, als er sie betrat. Sie sahen aus wie Lkw-Fahrer. Niles stellte seinen Koffer links neben die Tür, rieb seine steifen Hände und atmete eine weiße Wolke aus. Der Barmann grinste ihn jovial an.
    »Kalt genug für Sie da draußen?«
    Niles rang sich ein Grinsen ab. »Ich habe nicht gerade geschwitzt. Geben Sie mir etwas zum Aufwärmen. Einen doppelten Bourbon, vielleicht.«
    Das machte neunzig Cents. Er hatte sieben Dollar vierunddreißig.
    Langsam ließ er den Whiskey über die Kehle hinunterlaufen, nachdem er ihn bekommen hatte. Er dachte an den Sommer, in dem er eine Woche in Washington festgesessen hatte – eine ganze Woche über vierzig Grad im Schatten, mit fünfundneunzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Die lebende Erinnerung half etwas mit, die psychologischen Auswirkungen der Kälte zu mildern.
    Niles entspannte sich, wurde warm. Jetzt drangen Gesprächsfetzen aus der Nachbarschaft zu ihm durch.
    »... Ich sage dir, Joe Louis schlug Schmeling beim zweiten Mal zu Matsch! Er ging in der ersten Runde k.o.!«
    »Du spinnst! Louis hat ihn in einer Fünf zehn-Runden-Entscheidung niedergemacht, in der zweiten Runde.«
    »Das scheint mir ...«
    »Ich wette darauf. Zehn Dollar dafür, daß es eine Entscheidung über fünfzehn war, Mann.«
    Zuversichtliches Kichern. »Ich möchte dir eigentlich gar nicht so leicht das Geld abnehmen, Mann. Jeder weiß, daß es ein k.o. in der ersten Runde war.«
    »Zehn Dollar, sagte ich.«
    Niles wandte sich um. Zwei der
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