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Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit
Autoren: Robert Silverberg
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Prediger ihn nicht zum Schweigen gebracht und zum Gewinner erklärt hätte.
    Barry Harman bekam seinen Handschuh nicht – Tommy Niles statt dessen ein blaues Auge.
    Ihm wurde langsam klar, daß er anders war. Es dauerte lange, bis er die Entdeckung machte, daß die anderen Menschen vieles vergaßen, und, statt ihn wegen seiner Fähigkeiten zu bewundern, ihn dafür noch haßten. Es war schwer für einen Jungen mit acht Jahren, selbst für Tommy Niles, zu begreifen, warum sie ihn haßten, aber schließlich fand er das heraus, und er begann zu lernen, wie er seine Gabe verbergen konnte.
    Im neunten und zehnten Lebensjahr übte er, normal zu erscheinen – und die Prügel nach der Schule hörten auf. Es gelang ihm sogar, einige Zweien in sein Zeugnis zu bekommen, statt immer nur Einsen. Er wurde erwachsen, er lernte zu heucheln. Die Nachbarn atmeten erleichtert auf, weil der schreckliche Tommy Niles nicht länger all die verrückten Dinge tat.
    Aber innerlich war er immer noch derselbe. Und ihm wurde klar, daß er Lowry Bridge bald verlassen mußte.
    Er kannte jedermann zu gut. Zehnmal die Woche ertappte er die Leute bei Lügen, selbst Mr. Lawrence, den Prediger, der eines Abends eine Einladung zu einem Nachbarschaftsfest bei den Niles mit der Begründung ablehnte »Ich muß wirklich noch meine Predigt für Sonntag vorbereiten«, obwohl er erst drei Tage vorher zu Miß Emery, der Gottesdiensthelferin, gesagt hatte, daß er aus einer Welle der Inspiration heraus an einem Abend drei Predigten geschrieben habe und daher für den Rest des Monats noch über freie Zeit verfügen könnte.
    Selbst Mr. Lawrence log – und er war der beste von allen Bewohnern. Was die anderen betraf ...
    Tommy wartete, bis er zwölf war; er war groß für sein Alter und glaubte, daß er selbst auf sich aufpassen konnte. Er borgte sich zwanzig Dollar aus der vermeintlich geheimen Kasse seiner Mutter, die sie ganz hinten im Küchenschrank aufbewahrte und ihm gegenüber vor fünf Jahren einmal erwähnt hatte, dann schlich er sich auf Zehenspitzen nachts um drei aus dem Haus. Er erwischte den Güterzug nach Chillicothe und war von da an unterwegs.
     
    Im Bus nach Los Angeles saßen dreißig Leute. Niles saß ganz allein hinten auf der letzten Bank, direkt über der Hinterachse. Er kannte vier Mitfahrer beim Namen, war aber sicher, daß sie sich nicht mehr an ihn erinnerten, und so schwieg er sich aus.
    Das war ein schwieriges Geschäft. Wenn man zu jemandem Guten Tag sagte, der einen vergessen hatte, wurde man für einen Stänkerer oder Bettler gehalten. Ignorierte man jemanden, weil man glaubte, daß er einen schon vergessen hatte, der sich aber erinnerte – dann war man ein Snob. Niles hatte diese Probleme mindestens fünfmal am Tag. Er sah jemanden wie das Mädchen Bette Torrance und bekam nur einen kalten, fremden Blick – dann lief er an jemandem vorbei, von dem er glaubte, daß er sich nicht an ihn erinnerte, und hörte hinter sich ein ärgerliches »He, für was, zum Teufel, hältst du dich?«
    Jetzt saß er allein im Bus und hüpfte bei jeder Drehung des Rades unter ihm auf und ab, während sein einziger Koffer mit seinen Habseligkeiten über ihm auf der Gepäckablage hin und her schrappte.
    Das war ein Vorteil seines Talents: Er konnte fast ohne Gepäck reisen. Er brauchte keine Bücher mitzuschleppen, wenn er sie einmal gelesen hatte; und weitere Gegenstände aufzuhäufen hatte auch keinen Sinn – sie wurden ihm zu vertraut, und bald darauf wurde er ihrer überdrüssig.
    Niles sah zu den Straßenschildern. Sie waren tief in Nevada – der alte, ermüdende Rückzug setzte ein.
    Er konnte nie zu lange in einer Stadt bleiben, mußte sich neue Gegenden suchen, neue Orte, von denen er keine Erinnerung besaß, wo niemand ihn kannte, wo er niemanden kannte. In den sechzehn Jahren, seit er von zu Hause fort war, hatte er unzählige Kilometer zurückgelegt.
    Jetzt erinnerte er sich an die Jobs, die er gehabt hatte.
    Einmal war er Korrekturleser für einen Chicagoer Verlag gewesen. Dabei leistete er die Arbeit von zwei Männern. Normalerweise ging das Korrekturlesen so vor sich, daß einer von einer Kopie des Manuskripts ablas, während der andere es gegen die Druckfahnen prüfte. Niles hatte eine einfachere Methode: Er prägte sich das Manuskript einmal ein, dann brauchte er die Druckfahnen nur noch auf Abweichungen hin zu untersuchen. Das hatte ihm fünfzig Dollar die Woche eingebracht, bis die Zeit gekommen war, weiterzuziehen.
    Ein andermal
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